Schwarzes Hamburg > Politik & Gesellschaft -Archiv-
Thilo Sarrazin
CubistVowel:
--- Zitat von: Eisbär am 03 September 2010, 15:01:23 ---
--- Zitat von: banquo am 03 September 2010, 15:00:12 --- Dieses Buch hilft Null, die Probleme dieses Landes zu lösen.
--- Ende Zitat ---
Wieviele Bücher kennst Du, die das tun?
--- Ende Zitat ---
Um die anderen 0-hilfreichen Bücher wird aber nicht soviel Trara gemacht. ;)
Ich stimme dir zu, Eisbär, Deutschland hat ein Integrationsproblem mit einem Teil der muslimischen Immigranten. Die Probleme sind bereits Jahrzehnte alt und hausgemacht. Eine ernsthafte Debatte halte auch ich für dringend notwendig.
Aber auf welchem Niveau findet denn diese Debatte statt? Ich finde es erschreckend, wie viele verkappte Rechte jetzt aus ihren Löchern gekrochen kommen und sich trauen ihre Fressen aufzureißen, die sie wohlweislich und aus gutem Grunde bisher geschlossen hielten. Ich sehe hier ganz oft eindeutig Fremdenfeindlichkeit und Angst als Motiv.
Für mich besteht dabei eine gewisse Übereinstimmung mit der Hartz-IV-Hetze eines Guido Westerwelle: Es ist nicht etwa das verfehlte System, die jahrzehntelang misslungene Politik, die zurecht angeprangert werden müssten, sondern es sind die Menschen, die in und mit diesem verfehlten System leben (müssen), auf die eingedroschen wird und denen die Schuld zugewiesen wird. In meinen Augen in beiden Fällen ganz widerlich und von der Lösung irgend eines Problems weit entfernt. Es ist also wohl auch kein Zufall, dass diese beiden Menschengruppen (und besonders die Schnittmenge) Hauptziel von Sarrazins Angriffen sind.
(Wobei ich - am Rande - ganz bestimmt keine fanatisch religiösen Muslime und die daraus entstehenden intoleranten "Parallelgesellschaften" verteidigen will. Würde ich auch bei fanatischen Christen etc. nicht tun.)
Spambot:
@ kallisti:
Ich hab die Debatte um die Thesen in Sarrazins Buch nur am Rande verfolgt. Wenn ich es richtig verstanden hatte, hat der Autor irgendwelche demographischen Prognosen und Thesen aus der Nature vs. Nurture Debatte miteinander verbunden. Vermutlich hat er das Dogma, dass der Mensch bei Geburt ein unbeschriebenes Blatt (Tabula Rasa) sei und ausschließlich durch Sozialisation geformt werde, verworfen und dann die aktuellen Ergebnisse von empirischen Adoptionsstudien mit monozygotischen Zwillingen in einen unpassenden Zusammenhang gesetzt.
Auch wenn es eindeutige Belege für die genetische Vererbung von Persönlichkeitsmerkmalen gibt, lassen sich damit nur eingeschränkt allgemeine Aussagen über die Entwicklung einer Population oder gar eines Individuums machen. Hauptproblem ist hierbei, dass die Forschungsergebnisse bisher keine Aussagen zu spezifischen Verhaltensweisen (sondern nur Merkmalkategorien) zulassen und dass Aussagen über die Verteilung der genetischen und sozialen Einflüsse in der Persönlichkeitsentwicklung sich immer nur auf eine relativ große Stichprobe beziehen. Rückschlüsse auf das Individuum sind selten durch empirische Belege gestützt und ließen sich auch nicht auf andere Fälle übertragen. Hinzu kommt, dass sich Sarrazin anscheinend auf den Intelligenzbegriff konzentriert hat, der ja grundsätzlich ein umstrittenes Konstrukt ist.
Vielleicht mal ein Beispiel um die Problematik zu erläutern:
Ein Kind trägt die Hälfte der Gene des Vaters und der Mutter. Wenn man dies nun oberflächlich betrachtet, könnte man zu dem Schluß kommen, dass
Mutter IQ90 + Vater IQ90 = Kind ca. IQ85-95
(wenn man von einem sehr hohen Anteil der genetischen Vererbung von Intelligenz ausgeht)
Natürlich stimmt diese Gleichung so nicht. Zunächst ist der Umfang des Anteils der Vererbung in Relation zur Sozialisation umstritten. Viel wichtiger ist aber, dass Gene nicht Persönlichkeitsmerkmalen entsprechen und daher eine neue Kombination von Genen auch zu völlig neuen Merkmalen führen kann. Das Kind aus dem Beispiel könnte also auch, trotz der geringen statistischen Wahrscheinlichkeit, einen deutlich höhreren IQ haben. Weiterhin ist unklar inwieweit erlerntes Verhalten die Aktivierung bestimmter Gene beeinflussen kann (eine sehr umstrittene Hypothese).
Den genetischen Faktor bei der Entstehung von Persönlichkeitsmerkmalen in eine Integrationsdebatte einfließen zu lassen ist problematisch, da sich die Auswirkung der Vererbung von Merkmalen über mehrere Generationen auch bei einer sehr globalen Betrachtung einer Population kaum vorhersehen lassen. Hinzu kommt, dass in der aktuellen Debatte vermutlich Intelligenz und sozialer Status/Sozialverhalten in einen unmittelbaren Zusammenhang gesetzt wurden. Auch hier gibt es entsprechende empirische Studien, deren Ergebnissse allerdings stark von den sozialen Rahmenbedingungen der untersuchten Population abhängen. Da ist es immer schwierig Ursache und Wirkung zu unterscheiden.
Ich hoffe das erklärt einigermaßen, warum es schwierig ist, die Vererbung von Intelligenz oder anderen Persönlichkeitsmerkmalen in eine Integrationsdebatte einfließen zu lassen. Aus moralischer Sicht trifft man quasi pauschalisierte Aussagen über die "genetische Wertigkeit" einer Bevölkerungsgruppe ohne dass dies wissenschaftlich belegbar ist. Damit liefert man Rassisten natürlich reichlich Munition für zukünftige Debatten und fördert nicht gerade die Integration dieser Bevölkerungsgruppe. Da Integration ein rein sozialer Prozess ist, nützt eine Debatte um die genetische Vererbung von Persönlichkeitsmerkmalen und Intelligenz sowieso nichts.
Unabhängig von der Integrationsdebatte ist es aber richtig, dass unser Land oder die EU in den nächsten Jahrzehnten auf Hochtechnologie und hochwertige Dienstleistungen angewiesen ist und es damit immer weniger Bedarf an Arbeitskräften mit geringer Qualifikation gibt. Die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung in Schwellenländern wie China und Indien wird uns zwingen diese wirtschaftlichen Nische zu besetzen. Das man diese Erkenntnisse über die wirtschaftliche Entwicklung als Grundlage für eine Neuordnung der Einwanderungspolitik (nicht Integrationspolitik) nimmt, kann ich gut nachvollziehen.
Auf der anderen Seite zeigt die aktuelle Diskussion auch, dass wissenschaftliche Erkenntnisse auch heute noch gerne abgelehnt werden, wenn sie ideologischen Grundsätzen widersprechen. Der SPD-Chef S. Gabriel hat angekündigt, dass Parteiausschlußverfahren gegen Sarrazin mit dessen Menschenbild zu begründen. Sarrazin soll ausgeschlossen werden, da er nicht an den Menschen glaubt, dessen Persönlichkeit ausschließlich durch Sozialisation geformt wird. Dies sei mit dem Menschenbild der SPD nicht vereinbar. Nunja, die Erde ist eine Scheibe - wir müssen nur fest genug daran glauben, damit es wahr wird.
Zur politischen Elite: Den Begriff habe ich zur begrifflichen Abgrenzung der Personengruppe benutzt. Er ist hier nicht als qualitative Wertung zu sehen.
Grad noch gefunden: Artikel zum Thema Vererbung von Intelligenz
Kallisti:
Was ich bei der Gen-Debatte grundsätzlich vermisse, ist, dass von Epigenetik offenbar (leider überhaupt) nicht die Rede ist (bei Sarrazin)?
http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,605447,00.html
Spambot:
Soweit ich weiss ist diese Hypothese von der epigenetischen Vererbung noch hoch umstritten in der Verhaltensgenetik (stand zumindest in einem meiner aktuellen Lehrbücher). Hinzu kommt, dass empirische Studien beim Menschen erst in wenigen Jahrzehnten die ersten belastbaren Ergebnisse liefern dürften. Eine weitere Schwierigkeit ist, dass man erstmal einen entsprechenden Zusammenhang zwischen einem bestimmten Verhalten, der Aktivierung von Genen und involvierten chemischen Prozessen herstellen muß, bevor ich diesen Zusammenhang dann über Studien überprüfe. Da gibt es es unglaublich große Anzahl an Kombinationsmöglichkeiten beim Menschen.
Nach meinen (begrenzten) Kenntnissen ist das also noch ferne Zukunftsmusik.
Sollte die epigenetische Vererbungshypothese zutreffen, würde dies auch ein neues Licht auf die Geschwindigkeit der Evolution werfen.
Ich hab die zitierte Studie mal überflogen. Die Aussagekraft der Studie scheint mir in Bezug auf die Vererbbarkeit erlernten Verhaltens sehr begrenzt, da man sich auf die long-term potentation (Stärkung von synaptischen Verbindungen) von Mäusen mit einer künstlichen Läsion der CA1 Region des Hippocampus (wichtig für Erinnerung) stützt. Es geht dabei um weitgehend autonome Reaktionen des zentralen Nervensystems bei Mäusen, nicht um komplexe bewußte Handlungen. Zudem waren die Mäuse bereits schwanger als sie stimuliert wurden. Sicherlich eine sehr interessante Studie, aber kein Durchbruch, wie man es nach der Lektüre des Spiegelartikels vielleicht erwartet hätte.
Somit ist die epigenetische Vererbunghypothese in meinen Augen noch nicht für politische Diskussionen geeignet, da die Forschung noch in den Kinderschuhen steckt und belastbare Studienergebnisse fehlen. Das Ganze könnte sich auch noch als Sackgasse herausstellen. Selbst wenn die Hypothese zutreffen sollte, wäre der Effekt vermutlich sehr gering und eher langsam, da sich der Mensch ansonsten dramatisch in seinem Verhalten innerhalb von wenigen Generationen ändern würde oder bereits geändert hätte. Eventuell ist der transgenerationale Effekt auch stark auf bestimmte Merkmale beschränkt (z.B. Funktion des Metabolismus als Reaktion auf die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln).
Kallisti:
Zur Epigenetik beim Menschen hier nur ganz kurz ein Link - da findet sich (auf diesen Seiten) noch jede Menge mehr Info zum Thema (Epigenetik). Off Topic, ja. Trotzdem hoch interessant, wie ich finde.
http://epigenome.eu/de/2,48,1015
Navigation
[0] Themen-Index
[#] Nächste Seite
[*] Vorherige Sete
Zur normalen Ansicht wechseln