Schwarzes Hamburg

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Autor Thema: Spiegel Artikel Sprache <-> Realität  (Gelesen 8002 mal)

Candide

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Spiegel Artikel Sprache <-> Realität
« am: 23 August 2004, 15:01:32 »

"Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt", resümiert Wittgenstein (ich gestehe erneut das ich ihn sehr dolle mag) in seinem Tractatus. Und in der Tat bin auch ich überzeugt davon, das unserere Sprache ganz wesentlichen Einfluss auf unsere Realitätsbildung haben - wir denken in Sprache, alles, was über blosses Abbilden und wahrnehmen hinaus geht, findet in Sprache statt. Was aber, wenn die Sprache keinen Begriff für etwas kennt - kann dieses etwas dann Teil der Realität für uns sein bzw. kann es nicht nur wahrgenommen, sondern auch darüber reflektiert werden?

Dazu ein neckischer kleiner Artikel in Spiegel Online:

http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,314106,00.html

Interessant auch der Hinweis auf Newspeak und Orwell, insb. in Anbetracht der Rechtschreibreform...  :evil:
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Bombe

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Spiegel Artikel Sprache <-> Realität
« Antwort #1 am: 23 August 2004, 15:14:53 »

Also, ich entdecke jetzt spontan zwischen der Rechtschreibreform und Newspeak nicht all zu viele Gemeinsamkeiten. „Böse“ und unliebsame Worte wurden nicht entfernt, wir haben immer noch nicht „plus“ und „doppelplus“ als Vorsilben für Komparative und Superlative, und außerdem kippt die Rechtschreibreform gerade. Was schade ist, da ich mich gerade daran gewöhnt hatte.
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Manchmal fragt man sich, ob sich die Rettungsversuche überhaupt lohnen. Lohnt es sich, die Menschheit zu retten? So wie ich die Sache sehe, ist die Intelligenz bereits ausgerottet, und es leben nur noch die Idioten.

Candide

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Spiegel Artikel Sprache <-> Realität
« Antwort #2 am: 23 August 2004, 15:24:21 »

Zitat von: "Bombe"
Also, ich entdecke jetzt spontan zwischen der Rechtschreibreform und Newspeak nicht all zu viele Gemeinsamkeiten. „Böse“ und unliebsame Worte wurden nicht entfernt, wir haben immer noch nicht „plus“ und „doppelplus“ als Vorsilben für Komparative und Superlative, und außerdem kippt die Rechtschreibreform gerade. Was schade ist, da ich mich gerade daran gewöhnt hatte.


Das nicht, aber es ist doch so, das diese Reform die Komplexität der Sprache stark reduziert - welche Auswirkungen hat das auf Kultur, mittelfristig?
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Bombe

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Spiegel Artikel Sprache <-> Realität
« Antwort #3 am: 23 August 2004, 15:27:19 »

Die „Komplexität“, auf die du dich beziehst, meint aber nur die Schriftform. Die gesprochene Sprache änderte sich durch die Reform nicht ein Stück. Dafür sind eher die bösen, bösen Konsum-Massenmedien verantwortlich zu machen (und Tageszeitungen, deren Redakteure den Genitiv nicht mehr beherrschen. *schnüff* der arme Genitiv. Wird wohl irgendwann ausgestorben sein. Dabei mochte ich den!).
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colourize

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Spiegel Artikel Sprache <-> Realität
« Antwort #4 am: 23 August 2004, 15:29:40 »

Hmmm... wie in dem Artikel auch zu lesen ist, ist die Idee von einem Zusammenhang von Sprache und Wahrnehmung nicht neu. Diese Theorie stammt aus den 1920er Jahren und ist als Saphir-Whorf-Hypothese in die ethnologische Forschung eingagangen. Inzwischen kann diese Hypothese aufgrund ihrer kulturdeterministischen Formulierung als widerlegt gelten - allerdings spannt Spache einen "Raum der Möglichkeiten" (possibilistische Formulierung der Hypothese) auf.
Außer der Sprache bestimmen viele andere Aspekte die Realitätswahrnehmung ebenso - und viele davon in einem viel stärkeren Maße als die Sprache. So z.B. Rollenmodelle ("Was ist die Aufgabe einer 'Mutter'? Welche Erwartungen stellt man an einen 'Lehrer'? etc.), oder der historische Kontext einer Gesellschaft.

Zur Saphir-Whorf-Hypothese ein Link:
http://www.psy.dmu.ac.uk/cgi-bin/412/9900psyc1011.pl?read=123
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colourize

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Spiegel Artikel Sprache <-> Realität
« Antwort #5 am: 23 August 2004, 15:34:45 »

Zitat von: "Candide"

Das nicht, aber es ist doch so, das diese Reform die Komplexität der Sprache stark reduziert - welche Auswirkungen hat das auf Kultur, mittelfristig?

Gar keine.

Sprache ist nämlich dynamisch und wird nicht von der Duden-Redaktion erfunden. Sprache formt sich durch die Sprecher, und natürlich wirkt die Sprache auch zum Teil wieder auf die Kultur zurück (s. mein Beitrag oben, Saphir-Whorf Hypothese).
Ob man "Basssklave" nun mit zwei oder drei "S" schreibt, spielt aber überhaupt keine Rolle für unsere Realität. Mal abgesehen davon, dass dies ein Beispiel ist, das sowohl nach der alten als auch nach der neuen Rechtschreibung mit drei "S" geschrieben wird.  8)
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kb

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Spiegel Artikel Sprache <-> Realität
« Antwort #6 am: 23 August 2004, 15:36:21 »

Ob die Rechtschreibreform so durchkommt, ist glücklicherweise dank weiterhin steigenden Widerstandes immer noch fraglich. Was Newspeak angeht, schließ ich mich dabei aber Bombe an - die Sprache an sich wird ja nicht verändert, nur eine ihrer vielen Kodierungen.

Ein Orwellscher Transformationsprozeß ist aber trotzdem da - wenn ich an Newspeak denke, fällt mir nur ein Begriff ein:

Political Correctness.

Dank des neuesten Trends aus Amerika wird auch hier versucht, immer mehr Worte aus der Sprache zu streichen, nur weil sie irgendwelche dahergelaufenen Randgruppen verletzen könnten - die aber vermutlich nie jemand zu dem Thema gefragt hat.

Ich dagegen nenn das bewußte Verdrehung von Tatsachen aus der Angst davor,  genau diesen ins Auge sehen zu müssen. Ein Blinder wird nicht weniger blind, nur weil man ihn "visually challenged" nennt. Und ich glaube auch nicht, dass man den Rassismus der Welt dadurch bekämpfen kann, dass man (so geschehen in Los Angeles, URL kann ich ggf raussuchen) seine IDE-Festplatten nicht mehr mit Master oder Slave kennzeichnet.

Ehrlich gesagt macht mir DAS aam meisten Angst. Die Rechtschreibreform ist da nur ein weiterer Tropfen in die heiße Steinhöhle der allmählichen Verdummung.
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Candide

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Spiegel Artikel Sprache <-> Realität
« Antwort #7 am: 23 August 2004, 15:37:20 »

Ganz nebenbei angemerkt: interessant ist auch, wie mit dem Unterschied zwischen Wort und Ding, bzw. Ding und Abbild, umgegangen wird. Es gibt doch ganz immense Unterschiede zwischen dem Ding "Ball", dem Wort "Ball" und der Zählform "1 (Ball)". Insbesondere durch die Cyberiesierung dürfte der Unterschied immer mehr verwischen, so ein Wort wie "Forum" ist hochspannend.

Kurz noch zur Rechtschreibreform: was ich bedenklich finde, ist, das eine Regierung so massiv in die Grundlagen der Kultur eingreift, aus der sie ja hervorgeht. Der Weg muß umgekehrt ablaufen, Kulturen schaffen Regierungen, nicht Regierungen schaffen Kulturen...

Zitat von: "kb"
Political Correctness. [..] Und ich glaube auch nicht, dass man den Rassismus der Welt dadurch bekämpfen kann, dass man (so geschehen in Los Angeles, URL kann ich ggf raussuchen) seine IDE-Festplatten nicht mehr mit Master oder Slave kennzeichnet.


Unwort des Jahrhundertes. Schöne Anekdote, die mir grad spontan einfäält, aber nur am Rande damit zu tun hat: die bayrische Regierung wollte mal gerne die gesamte Website Bayerns von Anglismen befreien. Dann stand da nicht mehr "Bayern online" sondern "Bayern auf Linie". Treffer, versenkt.
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Gleipnir

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« Antwort #8 am: 23 August 2004, 15:57:08 »

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er ist der Mann, der in meinem Saal
Das Wort an mich wendet ?
Aus kommst du nimmer aus unsren Hallen,
Wenn du nicht weiser bist.
[Die Edda VAFTHRÛDHNISMÂL, Das Lied von Wafthrudnir, Vers 7]

messie

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Spiegel Artikel Sprache <-> Realität
« Antwort #9 am: 23 August 2004, 22:36:27 »

Was für ein Thema! Da kann ich ja garnicht anders als was dazu zu sagen  :mrgreen:

Zuerst einmal: In den Beiträgen hier gibts ja bereits drei Themen, die da wären:

1) Zusammenhang zwischen Sprache und Denken
2) Auswirkungen der Rechtschreibreform
3) pc in der Sprache

Punkt 2) lässt sich ganz einfach beantworten: Sowohl kulturell als auch sprachlich gesehen hat sie nur eine Auswirkung - nämlich gar keine.
Denn das eigentliche sprachliche Schlachtfeld ist das mündliche. Wer glaubt, mündliche mit schriftlicher Sprache gleichzusetzen, der ist ganz gehörig auf dem Holzweg, genaugenommen haben diese zwei Sprachformen nahezu nichts miteinander zu tun.
Auch die Schriftsprache betreffend reduziert die Rechtschreibreform den sprachlichen Ausdruck in unserem täglichen Leben höchstens peripher. Es werden in den Zeitungen täglich dutzende neuer Begriffe verwendet, die meisten davon verschwinden bereits wenige Tage später wieder in der Versenkung. Und hätte man da nicht den Begriff "Reform" drübergeklebt sondern alles in kleineren Häppchen "Anpassung" genannt, dann hätte sehr wahrscheinlich kein Hahn nach gekräht.

Zur pc in der Sprache: Funktioniert auch nicht wirklich.
Dafür ist das Repertoire der brisanten Begriffe einfach zu klein. Es gibt eine ganze Reihe von Nazibegriffen die geächtet sind, einige wenige in Richtung Behinderter (z.B. "gehörlos" statt "taub"), einige bzgl. des Rassismus (wer sagt heute denn noch Neger?) und dann hört es auch schon langsam auf. Im Gegensatz zu den USA geschieht hier auch bei weitem nicht die Ächtung wie dort.
Obwohl Begriffe eine sehr große psychologische Wirkung haben können, halte ich die Angst vor einer aufkommenden pc in der Sprache hierzulande für reichlich übertrieben.

Und nun mal zum Hauptthema!
Im Grunde genommen hat es colourize mit seinem Absatz
Zitat
Außer der Sprache bestimmen viele andere Aspekte die Realitätswahrnehmung ebenso - und viele davon in einem viel stärkeren Maße als die Sprache. So z.B. Rollenmodelle ("Was ist die Aufgabe einer 'Mutter'? Welche Erwartungen stellt man an einen 'Lehrer'? etc.), oder der historische Kontext einer Gesellschaft.
schon sehr gut getroffen.

Ergänzen möchte ich, dass sich der Mensch nicht nach der Sprache richtet sondern die Sprache nach dem Menschen: Der Mensch passt die Sprache seinen eigenen Bedürfnissen an. Benötigt er also bestimmte Wahrnehmungsmuster nicht, dann wird sich das in der Sprache wiederspiegeln. - In dem genannten Beispiel ist es dann auch schön zu sehen: Der Piràha-Stamm hat nur Begriffe für "eins", "zwei", "viele" - aber das ist dann auch völlig logisch, man kann davon ausgehen, dass sie in ihrem Leben nie eine Notwendigkeit besassen, um in der Sprache wie in ihren Denkmustern Zahlen oberhalb von 3 zu manifestieren. Sie brauchen sie einfach nicht.

Ein zwar abgenutztes Beispiel zeigt sehr schön, dass ihnen nicht unbedingt etwas fehlt dadurch: Die Eskimos besitzen z.B. unzählige Begriffe für Schnee. Sie unterscheiden zwischen festem Schnee, lockerem, eher eisigem, schmutzigem und sauberem.. diese Unterscheidung ist für sie lebenswichtig, also hat sie sich herausgebildet. Wir dagegen sehen in Schnee halt nur Schnee. Uns würden die feinen Unterschiede in der Konsistenz niemals auffallen. Nur, weil wir keine Worte dafür haben? - Nein.
Weil wir diese Unterscheidung eben einfach nicht brauchen.

Es gäbe noch einiges mehr über den Zusammenhang zwischen Sprache und Denken zu sagen, würde hier aber zu weit führen.
Wer aber wirklich ein tiefgehendes Interesse daran hat sich damit auseinanderzusetzen, dem kann ich die Essays von Walter Benjamin wärmstens ans Herz legen (z.B. Walter Benjamin: Sprache und Geschichte, Reclam 1992). Auch wenn er nicht ganz leicht zu lesen ist: Es lohnt sich.
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Kenaz

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Spiegel Artikel Sprache <-> Realität
« Antwort #10 am: 23 August 2004, 23:31:23 »

Zu der Geschichte mit den Eskimos, die messie hier bemüht, darf ich - auch und gerade im Zusammenhang mit der Saphir-Whorf-These - einen kurzen, sehr hübschen Auszug aus einem Buch zitieren, das ich vor kurzem zu lesen die Freude hatte:

Achtung, es geht los:

"Da wir gerade von anthropologischen Falschmeldungen reden, darf natürlich auch in dieser Diskussion zum Thema Sprache und Geist die Mär vom Eskimovokabular nicht fehlen. Entgegen einer weitverbreiteten Ansicht kennen die Eskimos nicht mehr Wörter für Schnee als Sprecher des Englischen oder Deutschen. Sie kennen weder vierhundert, wie schawrz auf weiß behauptet wird, noch zweihundert, noch hundert, noch achtundvierzig - ja nicht einmal neun Wörter für Schnee. In einem Wörterbuch ist von zwei Wörtern die Rede; zählt man großzügig, so finden Experten ungefähr ein Dutzend, aber nach diesem Maßstab wäre das Deutsche nicht weit im Hintertreffen - siehe Schnee, Reif, Hagel, Graupel, Schloße, Harsch, Eisregen, Blizzard, Lawine.

Woher kam der Mythos? Jedenfalls nicht von jemandem, der die von Sibirien bis Grönland verbreiteten polysynthetischen Sprachfamilien des Yupik und Inupik tatsächlich untersucht hat. Die Anthropologin Laura Martin hat belegt, wie die Legende nach Art einer Klatschgeschichte aufgebläht und mit jeder Wiederholung weiter übertrieben wurde. 1911 hatt Boas beiläufig erwähnt, daß Eskimos vier verschiedene Wörter für Schnee verwenden. Whorf erweiterte die Zahl auf sieben, und ließ anklingen, daß es noch mehr gab. Sein Artikel fand in mehreren Auflagen weite Verbreitung und wurde danach in Lehrbüchern und populärwissenschaftlichen Werken über Sprache zitiert, was immer höher gegriffene Schätzungen in anderen Lehrbüchern, Aufsätzen und Zeitungsartikeln zur Folge hatte.

Der Linguist Geoffrey Pullum, der Martins Artikel in seinem Essay "The Great Eskimo Vocabulary Hoax" zu Popularität verhalf, stellte Vermutungen darüber an, warum die Geschichte so außer Kontrolle geriet: "Die angebliche lexikalische Exzentrität der Eskimos paßt so gut zu den vielen anderen Facetten ihrer polysynthetischen Perversität - Nasen werden aneinandergerieben, Ehefrauen an Fremde ausgeliehen, roher Robbenspeck wird verzehrt und Großmutter den Eisbären zum Fraß vorgeworfen." Welch ironische Wendung! Der Gedanke der linguistischen Relativität wurde aus der Boas-Schule als Teil einer Kampagne geboren, die zeigen sollte, daß des Lebens und Schreibens unkundige Kulturen nicht weniger komplex und ausgefeilt waren als europäische. Doch die vermeintlich horizonterweiternden Anekdoten verdanken ihre Anziehungskraft der gönnerhaften Tendenz, die Denkweisen anderer Kulturen als wunderlich und exotisch zu betrachten. Pullum bemerkt:

"An dieser leichtfertigen Übertragung und Ausweitung einer falschen Behauptung ist unter anderem bedrückend, daß es objektiv gesehen völlig uninteressant wäre, selbst wenn in irgendeiner arktischen Sprache eine große Anzahl von Wortstämmen für verschiedene Arten von Schnee existieren würde. Diese Tatsache wäre höchst profan und nebensächlich. Pferdezüchter kennen verschiedene Bezeichnungen für Pferderassen, -größen und -alter, Botaniker unterscheiden zwischen verschiedenen Blattformen, Innenarchitekten zwischen verschiedenen malvenfarbigen Schattierungen und Drucker kennen zahlreiche Namen für verschiedene Schrifttypen (Carlson, Garamond, Helvetica, Times New Roman usw.) - wen wundert's? ... Käme irgend jemand auf die Idee, über Drucker denselben Unsinn zu verzapfen, den wir in schlechten sprachwissenschaftlichen Lehrbüchern über Eskimos verbreitet finden? Nehmen wir [das folgende] zufällig ausgewählte Lehrbuch ..., in dem allen Ernstes behauptet wird: 'Es ist ganz offensichtlich, daß in der Kultur der Eskimos ... der Schnee eine so große Bedeutung besitzt, daß der begriffliche Bereich, der sich im Englischen auf ein Wort und einen Gedanken bezieht, in mehrere voneinander getrennte Klassen aufgespalten wird ...' Nun stellen Sie sich vor, folgendes zu lesen: 'Es ist ganz offensichtlich, daß in der Kultur der Drucker ... die Schrifttypen eine so große Bedeutung besitzen, daß der begriffliche Bereich, der sich unter Nichtdruckern auf ein Wort und einen Gedanken bezieht, in mehrere voneinander getrennte Klassen aufgespalten wird ...' Zum Gähnen langweilig, selbst wenn es stimmt. Allein der Verbindung mit jenen sagenumwobenen, die Promiskuität pflegenden, Speck knabbernden Jägern des Packeises ist es zu verdanken, daß uns etwas derart Banales zum Nachdenken vorgelegt werden konnte."

[...]"

(Steven Pinker, "Der Sprachinstinkt", München 1996, S. 75ff.)
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messie

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« Antwort #11 am: 24 August 2004, 00:17:40 »

hehe.. ja, deswegen meinte ich auch "abgenutztes Beispiel" .. da hatte ich mich in der Tat unklar ausgedrückt. Richtig ist, dass niemals eindeutig festgestellt wurde, ob und wie viele Begriffe Eskimos für Schnee haben. Richtig ist aber auch, dass der Begriff des Schnees in ihrem Sprachgebrauch eine grosse Rolle spielt. Die Legende von den hunderten Begriffen für Schnee (diese Anzahl halte ich auch für weit übertrieben) funktioniert eben deswegen so gut, weil sie einen Funken Wahrheit in sich trägt... eben den, dass Eskimos dem Schnee einen grossen Teil ihrer Zeit widmen und sie die Begrifflichkeiten rund um den Schnee um einiges öfter benutzen als wir.

Widersprechen will ich aber dem letzten Absatz dieses (ansonsten ausgezeichneten) Textes.
Denn genau darauf wollte ich in meinem vorigen Beitrag ja hinaus: Das Interessante (und eben nicht Uninteressante) daran ist, dass sich überall dort eine Vielzahl an Begriffen für sehr Ähnliches bilden wo sie benötigt werden. Für das gemeine Volk mag es als langweilig angesehen werden wenn Drucker verschiedene begriffliche Klassen für Schrifttypen entwickeln. Aus der Sicht der Sprachwissenschaft oder auch nur für dieses Thema hier ist dieser Umstand durchaus ein ziemlich spannender.

Nun, danke für die Quelle, die werde ich mir demnächst auf jeden Fall noch einmal in Gänze zu Gemüte führen - so klar umrissen fand ich bisher noch keinen Text zu diesem Thema  :)
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« Antwort #12 am: 25 August 2004, 17:57:50 »

Zitat von: "messie"
Die Eskimos besitzen z.B. unzählige Begriffe für Schnee.
Wo wir bei "political correctness" waren...
dieser Volksstamm heißt (und nennt sich) "Innuit" (=Mensch).
"Eskimo" ist ein Schimpfwort der Indianer für die Innuit, bedeutet soviel wie "Rohfleischesser" und wird von den Innuit als schwere Beleidigung gewertet.

Grüße
Lars

P.S: Ich will mal wieder nach Kanada und Alaska...
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Infos: www.nofuba.de

SuperTorus

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« Antwort #13 am: 25 August 2004, 18:00:47 »

Hm. aber leider weis kein Mensch außer Dir und vielleicht noch ein paar wenigen Akademikern wer oder was ein Innuit ist.

Ich bleib bei Eskimo.

Gruß,
  ST
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« Antwort #14 am: 25 August 2004, 18:34:28 »

Innuit? Das ist sone geheime Bedeutung eines Satzes, der von außen betrachtet komplett unschuldig erscheint. Wenn man aber genug Wissensstand ist, erkennt man die hintergründige Bedeutung und freut sich.

... glaub ich.
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