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Autor Thema: Menschlicher Fortschritt durch psychisch Kranke ?  (Gelesen 33582 mal)

Multivac

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Menschlicher Fortschritt durch psychisch Kranke ?
« am: 27 Januar 2012, 00:28:14 »

Ich hab eben in meiner :-* heißgeliebten FAZ-Sonntagszeitung einen Artikel im Wissenschaftsteil gelesen (es existiert kein online-Artikel zum Link posten), in dem es um die Frage geht, welche Art von Mensch eigentlich früher als "Führer" oder Autorität angesehen wurde und wie Kasten bzw. Hierarchien entstanden.

Die ersten menschlichen Gemeinschaften von Jägern und Sammlern waren relativ flach hierarchisch organisiert - es war einerseits nicht anders machbar und zweitens für die Sippe überlebensnotwendig. Der Stärkste kann es nicht gewesen sein, da die Funde derartiges nicht bestätigen. Eine Dominanz über andere, z.b. die Lagerung von mehr Fleisch als andere, hätte der ganzen Sippe geschadet. Auch noch heute sind in afrikanischen Jäger-und Sammler-Sippen die Hierarchien flach und es wird nicht toleriert, daß sich einer über den anderen stellt, auch nicht wenn er mehr Fleisch erbeutet, da er ja dann 'arrogant werden und den Rest wie Diener behandeln könnte, daß er 'prahlt und stolz wird oder gar irgendwann jemanden tötet'.

Man kann daher annehmen, daß soziale Kompetenz die damalige Menschheit zusammengehalten hat, also die Fähigkeit, sich nicht nur in die Gefühlswelt des anderen hineinzuversetzen, sondern auch anderen uneigennützig zu helfen. Man hat 1,5Mio Jahre alte Skelette von Menschen gefunden, die darauf hindeuten, daß Kranke lange Zeit intensiv gepflegt wurden, da sie andererseits mit ihrer Erkrankung nicht so lange ohne fremde Hilfe überlebt hätten.

Erst gegen Ende der Altsteinzeit gab es eine technische Revolution in Form von Werkzeugen wie Wurfspeere, Pfeil, Bogen sowie eine kulturelle Revolution: die Bestattung von Toten, deren Schmückung mit Ockerfarben, man schnitzte Figuren aus Elfenbein, erfand Musikinstrumente und begann mit dem Warenhandel. Erst jetzt war es möglich, daß Individuen aus der Masse heraustraten - sie fertigten z.B. Höhlenmalerein an, die auf entweder einen scharfen Beobachter (genaue Abbildung von Tieren) oder auf einen eher träumenden Boebachter (metaphorische, geistesbeschwörerische Zeichnungen) schließen lassen.

Nun die These einiger Anthropologen: es waren damals Autisten (bzw. die abgeschwächte Form - das Asperger Syndrom) und Schizophräne, die dazu in der Lage waren, die die Menschheit durch ihre Eingebungen und ihren Intellekt bzw. Beobachtungsgabe technisch und kulturell voran gebracht haben und die daher verehrt und als Autorität angenommen wurden.

~

Interessante Idee, die erstmal krass klingt, aber andererseits: sagt man nicht heute noch, daß Genie und Wahnsinn nah beieinander liegen ? Waren die größten Herrscher und Despoten nicht auch irgendwo schlau und/oder verrückt ?
« Letzte Änderung: 27 Januar 2012, 12:12:36 von Multivac »
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nightnurse

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Re: Menschlicher Fortschritt durch psychisch Kraanke ?
« Antwort #1 am: 27 Januar 2012, 12:12:48 »

(Mal ungeordnet drauf los)

Autisten? Na, ich weiss ja nicht.
Die meisten sind froh, wenn sie möglichst wenig mit anderen Menschen zu tun haben können. Und die hochbegabten Asperger-Autisten sind auch meines Wissens deutlich in der Minderheit gegenüber der Art von Savants, die bis vor kurzer Zeit noch politisch inkorrekt "Idiots" mit Vornamen hiessen (so jemand malt Dir die ganze Höhle von Lascaux im Alleingang, aber sonst kann er unter Umständen wirklich nichts, gar nichts, das dürften auch Steinzeitmenschen gemerkt haben). Und wie häufig ist diese Störung heute und wie häufig war sie in der Steinzeit...häufig genug, um was zu bewirken? Und Schizophrene, haben die sich in der Steinzeit eher durch lebenspraktische Kreativität ausgezechnet als heute?
Und wenn also ein Aspie oder Schizophrener die Höhle von Lascaux ausgemalt hat, haben seine Mitmenschen ihn anschließend möglicherweise als religiös wichtig eingestuft und verehrt; aber alles Weitere...sind zwar spannende Fragen, aber außer Spekulation bleibt einem nichts.

In dem, was Du schreibst, ist auch irgendwie ein seltsamer Brückenbau zwischen Kreativität, Intellekt,  Autorität und Hierarchie. Diese Dinge stehen ja nicht notwendigerweise im Zusammenhang.
Das Entstehen einer Hierarchie muss ja nicht darauf beruhen, dass man jemanden verehrt, weil er etwas Tolles oder Praktisches geschaffen hat. Reicht doch auch, dass er kräftig genug ist, die Nachbarn und die Wölfe in die Flucht zu schlagen (und wenn das schiefgeht, haben wir bald eine 1a Diktatur).

Und wie hiess nun der Doktor, der das Buch mit dem ungefähren Titel "Wir behandeln die falschen" geschrieben hat - der vertritt die These, sämtliche Diktatoren seien geistig gesund gewesen, sonst hätten sie´s ja, hm, "beruflich" nicht so weit gebracht (ich stimme ihm da nicht zu, aber ich bin ja auch nicht Psychiaterin  ::) ).

Wäre ja auch möglich, dass un-kranke Menschen mit hohem Intellekt aufgrund ihrer Kombinationsfähigkeit als Autoritäten angesehen wurden. Oder ist das zu einfach? *.*

Irgendwo hatte K-Nichen kürzlich einige Absätze über Narzissten geschrieben - die scheinen eher prädestiniert, sich zu Herrschern aufzuschwingen. Inwieweit sie aber für Fortschritt verantwortlich gewesens ein könnten...
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Re: Menschlicher Fortschritt durch psychisch Kranke ?
« Antwort #2 am: 27 Januar 2012, 15:25:50 »

Wem nachträglich, ohne daß es je Untersuchungen gab, nachträglich ein Asberger angedichtet wurde, geht auf keine Kuhhaut mehr. Inzwischen braucht man also schon Höhlenwände.
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Kallisti

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Re: Menschlicher Fortschritt durch psychisch Kraanke ?
« Antwort #3 am: 29 Januar 2012, 02:01:21 »

(Mal ungeordnet drauf los)

Autisten? Na, ich weiss ja nicht.
Die meisten sind froh, wenn sie möglichst wenig mit anderen Menschen zu tun haben können. Und die hochbegabten Asperger-Autisten sind auch meines Wissens deutlich in der Minderheit gegenüber der Art von Savants, die bis vor kurzer Zeit noch politisch inkorrekt "Idiots" mit Vornamen hiessen (so jemand malt Dir die ganze Höhle von Lascaux im Alleingang, aber sonst kann er unter Umständen wirklich nichts, gar nichts, das dürften auch Steinzeitmenschen gemerkt haben). Und wie häufig ist diese Störung heute und wie häufig war sie in der Steinzeit...häufig genug, um was zu bewirken? Und Schizophrene, haben die sich in der Steinzeit eher durch lebenspraktische Kreativität ausgezechnet als heute?
Und wenn also ein Aspie oder Schizophrener die Höhle von Lascaux ausgemalt hat, haben seine Mitmenschen ihn anschließend möglicherweise als religiös wichtig eingestuft und verehrt; aber alles Weitere...sind zwar spannende Fragen, aber außer Spekulation bleibt einem nichts.

In dem, was Du schreibst, ist auch irgendwie ein seltsamer Brückenbau zwischen Kreativität, Intellekt,  Autorität und Hierarchie. Diese Dinge stehen ja nicht notwendigerweise im Zusammenhang.
Das Entstehen einer Hierarchie muss ja nicht darauf beruhen, dass man jemanden verehrt, weil er etwas Tolles oder Praktisches geschaffen hat. Reicht doch auch, dass er kräftig genug ist, die Nachbarn und die Wölfe in die Flucht zu schlagen (und wenn das schiefgeht, haben wir bald eine 1a Diktatur).

Und wie hiess nun der Doktor, der das Buch mit dem ungefähren Titel "Wir behandeln die falschen" geschrieben hat - der vertritt die These, sämtliche Diktatoren seien geistig gesund gewesen, sonst hätten sie´s ja, hm, "beruflich" nicht so weit gebracht (ich stimme ihm da nicht zu, aber ich bin ja auch nicht Psychiaterin  ::) ).

Wäre ja auch möglich, dass un-kranke Menschen mit hohem Intellekt aufgrund ihrer Kombinationsfähigkeit als Autoritäten angesehen wurden. Oder ist das zu einfach? *.*

Irgendwo hatte K-Nichen kürzlich einige Absätze über Narzissten geschrieben - die scheinen eher prädestiniert, sich zu Herrschern aufzuschwingen. Inwieweit sie aber für Fortschritt verantwortlich gewesens ein könnten...


Ja, da stimme ich fast allem zu/sehe das ähnlich. :)

Was das betrifft:

Zitat
Und wie hiess nun der Doktor, der das Buch mit dem ungefähren Titel "Wir behandeln die falschen" geschrieben hat - der vertritt die These, sämtliche Diktatoren seien geistig gesund gewesen, sonst hätten sie´s ja, hm, "beruflich" nicht so weit gebracht (ich stimme ihm da nicht zu, aber ich bin ja auch nicht Psychiaterin  ::) ).

Manfred Lütz heißter ("Irre - Wir behandeln die Falschen").

Ja, allgemeinhin denkt man, da seien so einige Diktatoren, Despoten, Tyrannen nicht ganz klar im Denkkästchen (gewesen) ...  - aber er erklärt das durchaus nachvollziehbar/einleuchtend, wie ich finde - warum sie also nicht "verrückt", d.h. geistig und oder psychisch krank/gestört waren/sind ... (wenn ich auch sonst von dem Buch eher enttäuscht war, weil man eigentlich kaum was Neues erfuhr ... und mir der Schreibstil auch nicht gefiel - fand ich iwie so "anbiedernd", naja, subjektiv eben).

Was mir dabei aber sehr gut gefiel: dass also Fachleute gerade nicht so inflationär Verhaltensweisen oder gleich komplett Menschen pathologisieren (für "krank" oder "gestört" ...) erklären wie das Laien ja aber oft und gerne tun (genau: grade aufgrund ihrer Ahnungslosigkeit/Unkenntnis). Dass man als Psychiater mit Diagnosen eher vorsichtig und zurückhaltend ist ...

Und für "Laien-Psychologen" ... ;) und sonstige Normalsterbliche bedeutet das, dass man unterscheiden lernen (können) sollte - zwischen also Menschen, die charakterlich einfach Einzellerniveau haben (von Niveau mag man da ja gar nicht eigentlich sprechen) und solchen, die "nicht wirklich" oder überhaupt "Charakterschweine" sind, sondern eben: "krank"/erkrankt - und aber u.U. also wieder genesen können!! Was (Letzteres) bei den Charakterkrüppeln eher selten passiert ("Besserung" ...).


Nur enthält schon der Titel ja einen Widerspruch, denn "behandeln" (medizinisch) kann/darf man ja nur die wirklich Erkrankten - die Charakterstümpfe ja eben gerade nicht (daher ist es Unsinn: "wir behandeln die Falschen" ... - wenngleich trotzdem sofort klar ist, was er damit zum Ausdruck bringen will). 
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Simia

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Re: Menschlicher Fortschritt durch psychisch Kranke ?
« Antwort #4 am: 29 Januar 2012, 11:53:47 »

Ganz richtig, die Handlungsfähigkeit ist der Knackpunkt. Psychische Störungen, die bei Anführern (bis hin zu Diktatoren) denkbar sind, sind eher Narzissmus, Soziopathie, Wahn und Neurosen (und "damals" wahrscheinlich auch nicht zu extrem bzw. destruktiv). Wer unter Schizophrenie (also einer schweren Störung in Denken, Wahrnehmung, Antrieb/Affekt) gelitten hat, der hätte seine Sippe kaum durch schwierige Zeiten bringen können. Ich kann mir eher vorstellen, dass so jemand als Schamane etc. "konsultiert" wurde, denn je nach Kulturkreis schrieb/schreibt man derart "Gestörten" einen besonderen Draht zur Geisterwelt usw. zu (soll natürlich nicht heißen, dass alle Schamanen psychisch krank waren). Und so jemand hätte durchaus auch seine Vorstellungen und Träume auf die Höhlenwand bringen können. Allerdings hab ich zu diesem konkreten Beispiel auch einmal eine sehr interessante Dokumentation gesehen, ging dann eher in Richtung Sternbilder und Jahreszeiten etc. Die Menschen damals mussten auf ihre Weise unbedingte Realisten sein.

Wie auch immer, hier hat das Wort "Autorität" also zwei Wertigkeiten.

Was die Entwicklung der Menschheit angeht, hab ich auch mehrfach schon gelesen, dass die Hierarchisierung insbesondere mit dem technischen Fortschritt zusammenhing. Von daher wäre das also durchaus denkbar, dass flache Hierarchien die Flexibilität gewährleisteten, die die Jägerkulturen zum Überleben brauchten, mehr noch als die nachfolgenden Ackerbauern.
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Wenn du feststellst, dass das Pferd das du reitest tot ist, steig ab.

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Kallisti

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Re: Menschlicher Fortschritt durch psychisch Kranke ?
« Antwort #5 am: 29 Januar 2012, 12:08:31 »

Zitat
Ich hab eben in meiner :-* heißgeliebten FAZ-Sonntagszeitung einen Artikel im Wissenschaftsteil gelesen (es existiert kein online-Artikel zum Link posten),
(Multivac)

Hab da was in die Richtung gefunden (einfach "Steinzeitmenschen Autisten" gegoogelt)

http://www.wissenschaft-aktuell.de/artikel/Als_Autismus_noch_ein_Vorteil_war1771015587691.html

hier mehr oder weniger das Gleiche nochmal

http://www.welt.de/wissenschaft/umwelt/article13415466/Autismus-soll-beim-Ueberleben-geholfen-haben.html


Hier noch was zu Autismus/Asperger - aber geht bisschen noch in eine andere Richtung (durchaus lesenswert)

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/evolutionstheorie-der-autistische-messias-1303711.html

siehe daraus z.B. folgender Auszug

Zitat
Das „Asperger-Syndrom“ als Evolutionsschritt

Der soziale ist oft beschrieben worden, von Heideggers Klage über das „man“ bis zu den medieonökologischen Betrachtungen des George Steiner. Er hat mit dem Grad der gesellschaftlichen Homogenisieriung und Konformität zu tun, der in den reichen Gesellschaften der Moderne weit über alles bisher Bekannte hinaus durch Massenmedien möglich und mittels elektronischer Kommunikationtechnologien konsolidiert wurde. Westfahl spricht von seiner Universitätserfahrung, um zu verdeutlichen, was er meint: „Sobald sie das Seminar verlassen, greifen die meisten Studierenden nach ihren Handy, setzen Kopfhörer auf oder hocken sich mit ihren Laptops hin und surfen im Netz, überprüfen ihre E-mails - sie wollen nie allein sein, und sie müssen nie allein sein. Sie tun mir leid; denn wenn man pausenlos dem zuhört, was der Rest der Welt denkt, wird man zwangsläufig so denken, wie der Rest der Welt denkt.“

und

Zitat
(...) Gary Westfahl, der sich in seinem Aufsatz auch selbst als Asperger-Fall diagnostiziert, will davon nichts wissen. Er erfindet lieber eine neue Anthropologie, die das Stigma „Asperger“ ins Positive wendet und den „homo aspergerus“ entdeckt: „Während der Verstand aller übrigen Menschen in den Zeitgeist der gegenwärtigen Zivilisation verstrickt ist“, so Westfahl, „werden jene, bei denen man das Asperger-Syndrom diagnostiziert, diejenigen sein, die brillante neue Ideen haben, dauerhafte Kunstwerke schaffen oder neue Arten entwickeln, die Welt zu betrachten.“(...)



dann auch dies

Zitat
Ich schau dir nicht mehr in die Augen, Kleines

Die Pointe ist, daß diese Menschen sich danach nicht als ärmer, sondern als klüger und überlegen empfinden: „Wie viel an Mitgefühl und Intimität“, läßt Egan einen seiner mutwilligen Aspergerianer fragen, „ist echtes Verständnis, und wieviel ist nur der Wahn, etwas zu verstehen? Der Evolution ist es egal, ob wir die Wahrheit wissen, abgesehen von den allerpragmatischsten Belangen. Es kann pragmatische Illusionen geben: Wenn das Gehirn uns ein übertriebenes Gefühl unserer Fähigkeit suggerieren will, einander nah zu sein, damit die zur Reproduktion unerläßliche Paarbildung mit dem vereinzelten Bewußtsein vereinbar ist, dann wird es uns zur Not schamlos anlügen, damit diese Strategie Erfolg hat.“

(Hervorhebung - wie immer: Kallisti)


Naja, sorry - kann gleich alles eigentlich kopieren

Zitat
Wenn die Aneignung des selbst Hergestellten schwierig wird

Der alte Adam ist ein Geschöpf, das die Natur gleichsam aus ihren Zusammenhängen verstoßen und ins Gesellschaftliche gejagt hat - nur aufs natürlich Mitgegebene verwiesen, überlebt der nackte Affe nicht lange, also mußte er lernen, sich das, was er braucht, durch Arbeit und Ausbeutung natürlicher Ressourcen anzueignen.

Wir sind sehr viel weiter: Schaut man sich etwa die Verkehrsformen an, in denen unsere Ressourcenkreisläufe sich abspielen, und betrachtet man, wie sie etwa diktieren, daß die Rohstoffe, auf denen die einen sitzen, per Pipeline oder Frachtschiff zu den anderen gebracht werden, die dafür bezahlen können, dann muß man schließen, daß die Arbeit, die geleistet wird, in den allermeisten Fällen nicht mehr unmittelbar der Selbsterhaltung im Kampf mit der Natur, sondern dem Profit Dritter dient. Dies mag bedeuten, daß der Mensch, dessen Geschichte damit angefangen hat, daß er sich das aneignet, was die Natur hortet, am Ende paradoxerweise die Fähigkeit verloren hat, sich das anzueignen, was er selbst herstellt: Nicht die Witterung enthält den Leuten in der dritten Welt die Nutzung der Ressourcen vor, die sie aus dem Boden befreien, sondern der Weltmarkt knöpft sie ihnen ab, zu unfairen Preisen.

Was uns von Farnen und Fischen unterscheidet

Wenn jeder für sich bleibt, vereinzelt, sprachlos und von der Furcht getrieben, die Gesellschaft könnte ihn verstoßen wie die Natur seinen haarigen Ahnen, dann ist der Mensch dabei, sich aus dem halbfertigen Paradies zu vertreiben, das er sich aus Not gebaut hat. Wenn Autisten Ironie verstehen lernen, werden sie darüber schmunzeln. Einstweilen ist der effektivere Chef womöglich wirklich einer, der mit echter Asperger-Teilnahmslosigkeit durch seine ohnehin austauschbaren Angestellten hindurch auf die Nah- und Fernziele des Unternehmens blicken kann, und umgekehrt wird auch ein Angestellter, der nicht aus Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes - also vor Gemeinschaftsentzug - gelähmt ist, der nicht schon vor der bloßen Möglichkeit erbleicht, einen Fehler zu machen, seine Aufgaben sachgemäßer und effizienter erledigen als einer, der sich noch quälend vorstellen muß, was im Chef und den Kollegen vorgeht. Wundern muß man sich dann nur darüber, daß nicht gleich alle zuhause bleiben und lieber Maschinen den Kram besorgen lassen, die schließlich nicht erst einen evolutionären Sprung oder eine Operation brauchen, um sich für nichts und niemanden außerhalb der gegebenen Aufgabe zu interessierten.

Die Frage, die sich Leute wie Westfahl, die aus einem Mangel eine positive Mutation machen wollen, stellen lassen müssen, lautet: Ist der Mensch, der die Evolution verstehen gelernt hat, ihr überhaupt noch unterworfen? Der „nächste Schritt“ wird Westfahls „homo aspergerus“ nur dann sein, wenn wir auf das Abschreiten solcher Schritte festgelegt sind wie irgendwelche Farne oder Fische. Der Mensch aber könnte die Entwicklungslinie der Naturgeschichte, das letzte, was ihn noch mit seiner Herkunft verbindet, auch bewußt verlassen. Wenn Evolution Schicksal ist, führt sie unter den gegebenen Vorzeichen zum arbeitsfähigen Autisten. Wenn man sie aber steuern kann, führt sie vielleicht zur Solidarität, das heißt zu einer Welt, in der die Angst nicht deshalb verschwindet, weil ihre biologische Grundlage entfällt, sondern weil wir ihre soziale abgeschafft haben.

Quelle: F.A.Z., 14.03.2006, Nr. 62 / Seite 39


Sehr schöner Artikel, wie ich finde.  :)
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Kallisti

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Re: Menschlicher Fortschritt durch psychisch Kranke ?
« Antwort #6 am: 29 Januar 2012, 12:17:11 »

Nochmal kurz --- das hier (siehe vor allem Hervorhebung)

Zitat
Der soziale ist oft beschrieben worden, von Heideggers Klage über das „man“ bis zu den medieonökologischen Betrachtungen des George Steiner. Er hat mit dem Grad der gesellschaftlichen Homogenisieriung und Konformität zu tun, der in den reichen Gesellschaften der Moderne weit über alles bisher Bekannte hinaus durch Massenmedien möglich und mittels elektronischer Kommunikationtechnologien konsolidiert wurde. Westfahl spricht von seiner Universitätserfahrung, um zu verdeutlichen, was er meint: „Sobald sie das Seminar verlassen, greifen die meisten Studierenden nach ihren Handy, setzen Kopfhörer auf oder hocken sich mit ihren Laptops hin und surfen im Netz, überprüfen ihre E-mails - sie wollen nie allein sein, und sie müssen nie allein sein. Sie tun mir leid; denn wenn man pausenlos dem zuhört, was der Rest der Welt denkt, wird man zwangsläufig so denken, wie der Rest der Welt denkt.“


(aus obigem FAZ-Artikel)

alleine wär ja schon eigentlich diskussionswürdig. (Eigenes Thema wert.)  ;)
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schwarze Katze

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Re: Menschlicher Fortschritt durch psychisch Kranke ?
« Antwort #7 am: 29 Januar 2012, 14:40:42 »

Um irgendwie aus der grauer Masse hervorzurangen, muss man schon eine oder andere Störung haben.
Um jeden Fall hatten fast alle berühmte Persönlichkeiten eine psychische Macke
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Ansichtssache

  • Gast
Re: Menschlicher Fortschritt durch psychisch Kranke ?
« Antwort #8 am: 29 Januar 2012, 22:38:33 »

Ich habe überwiegend mit Formen des frühkindlichen Autismus zu tun gehabt, die meist mit schwerer geistiger Behinderung einhergehen. Also was das Argument betrifft „es muss einen Vorteil gehabt haben, sonst wäre Autismus nicht bis heute erhalten“ -  Schwachsinn.
Überhaupt sehr vage und nicht besonders überzeugend. Ich finde, teilweise sind die Artikel außerdem sehr verallgemeinernd und bedienen Klischees.

Und den Artikel von Kallisti aus der FAZ finde ich nicht wirklich „schön“. Nette Gesellschaftskritik, aber Autismus zu verherrlichen bringt nicht weiter, am Schluss wird das Ganze ja noch kritisch betrachtet, aber wieder unter Bedienung eines ganz bestimmten Bildes vom Autismus (Autisten vs. Solidarität, oder nicht?). Naja, ich kann mich damit nicht anfreunden.
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Kallisti

  • Gast
Re: Menschlicher Fortschritt durch psychisch Kranke ?
« Antwort #9 am: 29 Januar 2012, 23:30:43 »

Ansichtssache

es geht in dem FAZ-Artikel und auch eingangs bei Multivac um Asperger, nicht um Autismus als solchen.

Im FAZ-Artikel wird dann zwar auch auf "Autismus" rekurriert, aber eben: im übertragenden Sinne. Die gesellschaftskritische Note besteht ja eben darin, dass nicht von "wirklichen Autisten" die Rede ist, sondern von Menschen mit  - sagen wir: vergleichsweise "autistisch" anmutenden Zügen/Verhaltensweisen.

Es werden also nicht "wirkliche Autisten" kritisiert oder gar angegriffen, sondern eigentlich durchaus "gesunde", "normale" (! ;)  ;) ) Menschen, die sich allerdings ja durchaus bewusst für eine andere Verhaltensweise (bspw. also eine "solidarische(re)" ... ... ...) mehr oder weniger "frei" entscheiden können (im Gegensatz also zu Autisten, denen wohl doch eine Art freie Entscheidung in diesem Sinne verwehrt zu sein scheint?).

Doch - absolut gelungener Artikel, für meinen Geschmack. Wenn auch wieder mal: nichts Neues, das steht außer Frage. Aber ich freue mich immer, wenn der "Mantel des Schweigens" (oder des Verdrängens oder Wegguckens oder Sich-selbst-Verarschens, des Gute-Miene-zum-bösen-Spiel-Machens, des Heuchelns, Verharmlosens usw.) immer wieder mal ein wenig gelüftet wird (und ja, da darf es dann auch bisschen provokant sein - für mich bidde eine Portion davon. Was aber im FAZ-Artikel ja fehlt.).   :)
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Multivac

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Re: Menschlicher Fortschritt durch psychisch Kranke ?
« Antwort #10 am: 30 Januar 2012, 11:08:49 »

Kallisiti - vielen Dank für die Links, die werde ich mir mal in Ruhe durchlesen :)

Also was das Argument betrifft „es muss einen Vorteil gehabt haben, sonst wäre Autismus nicht bis heute erhalten“ -  Schwachsinn.
Ja, so ähnlich stand das da auch drin, wie sich solche Erkrankungen bis heute halten konnten... das finde ich Unsinn.  Das verantwortliche Gen bzw. die Gengruppe sirbt nur aus, wenn es einen Selektionsnachteil bietet oder wenn es mit einem Gen bzw. einer Gengruppe gekoppelt ist, die einen Selektionsnachteil bietet. Das bedeutet, daß jemand entweder an einer Erkrankung/Gendefekt etc. sterben muß, bevor er geschlechtsreif ist oder er aber keinen Partner aufgrund dieser Erkrankung findet. Oder steril ist bzw. nur sterile bzw. vor ihrer geschlechtreife sterbende Nachkommen zeugen kann (das trifft alles auf Autisten und Schizophräne nicht zu, oder ?). Wenn ein Gen nicht dahgingehend störend ist, gibt es keinen Mechanismus, der es aussterben läßt, es wird höchstens in einer Population verdünnt, bzw. durch zufällige Mutation in der Funktion unnütz/verändert/neuartig...
« Letzte Änderung: 30 Januar 2012, 11:11:09 von Multivac »
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Re: Menschlicher Fortschritt durch psychisch Kranke ?
« Antwort #11 am: 30 Januar 2012, 16:05:03 »

...oder er aber keinen Partner aufgrund dieser Erkrankung findet.
Darf ich das mal für Zeiten annehmen, in denen sowas noch nicht großartig behandelt werden konnte? Autismus zeichnet sich i.A. durch totale soziale Inkompetenz aus. Als Schizophrener hört man Dinge und Stimmen, die nicht da sind. Das sind beides nicht gerade Vorteile bei der Partnersuche.
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Re: Menschlicher Fortschritt durch psychisch Kranke ?
« Antwort #12 am: 30 Januar 2012, 18:32:23 »

...oder er aber keinen Partner aufgrund dieser Erkrankung findet.
Darf ich das mal für Zeiten annehmen, in denen sowas noch nicht großartig behandelt werden konnte? Autismus zeichnet sich i.A. durch totale soziale Inkompetenz aus. Als Schizophrener hört man Dinge und Stimmen, die nicht da sind. Das sind beides nicht gerade Vorteile bei der Partnersuche.

Nicht unbedingt.
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Re: Menschlicher Fortschritt durch psychisch Kranke ?
« Antwort #13 am: 31 Januar 2012, 14:27:00 »

*Finger hebt*

Also was das Argument betrifft „es muss einen Vorteil gehabt haben, sonst wäre Autismus nicht bis heute erhalten“ -  Schwachsinn.

Zusätzlich zu Multivacs Ausführungen gibt es ja auch noch genetische "Unfälle" wie T21. Oder was ist nochmal der evolutionäre Vorteil von Kurzsichtigkeit? Kindergebrüll ist sogar eindetig von Nachteil, da finden einen die Höhlenbären/ Wikinger/ Kreuzzügler/ Nazis und dann ist Schluss mit der Vererbungslinie (trotzdem schreien Kinder, von Natur aus).
Der Entstehungsmechanismus von Autismus ist, soweit ich weiss, auch noch nicht letztlich erforscht?

Ähm, und ich hab nochmal etwas drüber nachgedacht...eine Frage, die mich schon als Kind beschäftigte, war: Wie haben Menschen es jemals fertiggebracht, so lange in den Himmel zu gucken, bis sie alle Gesetzmäßigkeiten der Sternbewegungen raushatten??
Dazu passte dann die Überlegung, was wohl so ein Mathe- oder Kalender-"Savant" in der Steinzeit gemacht hätte. Angenommen, er hatte genug sonstige Fähigkeiten zum Überleben, hätte so jemand nach einigen Jahren Himmelsgucken sicherlich den Sternenhimmel "im Kopf". Wenn er sein Wissen dann noch mitteilen hätte können, wäre ihm womöglich ein Schamanenposten sicher gewesen.

Also...möglich ist mal wieder vieles, aber nachträgliche Diagnosen, noch dazu im Abstand von Jahrzehntausenden, finde  ich nicht sehr wissenschaftlich  ;)
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Re: Menschlicher Fortschritt durch psychisch Kraanke ?
« Antwort #14 am: 31 Januar 2012, 14:39:11 »


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Manfred Lütz heißter ("Irre - Wir behandeln die Falschen").

Ja, allgemeinhin denkt man, da seien so einige Diktatoren, Despoten, Tyrannen nicht ganz klar im Denkkästchen (gewesen) ...  - aber er erklärt das durchaus nachvollziehbar/einleuchtend, wie ich finde - warum sie also nicht "verrückt", d.h. geistig und oder psychisch krank/gestört waren/sind ...

Dazu mal ein Offtopic:
Ich  fand kürzlich ein Buch in der Anstaltsbibliothek, darin stand die Autobiographie eines Mannes, der Mitte des 19. Jahrhunderts irgendwann anfing, Stimmen zu hören. Kommentierend, beleidigend, befehlend und manchmal so laut, dass er schier darunter zusammenbrach. Er "wusste" auch ganz genau, von wem diese Stimmen ihm aus Holland nachgeworfen wurden, wo immer er hinreiste, und wie sie das anstellten.

Wir dürfen wohl annehmen, dass dieser Mann auch vor Herrn Lütz als geisteskrank gelten würde.

Aber: Er hat jahrzehntelang trotz der Stimmen erfolgreich als Textilvertreter gearbeitet, so erfolgreich, dass er sich leisten konnte, seine mehrbändige und seitenstarke Autobiographie in fünfstelliger Auflage im Selbstverlag zu veröffentlichen.

Geisteskrankheit und Handlungsfähigkeit schließe sich also nicht aus (und wie Simia schon schreibt, es gibt ja auch noch Narzissten und Psychopathen und so).
Also muss nicht als erwiesen gelten, dass Hitlerstalinidiaminpolpotundsoweiter geistig völlig normal waren.
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