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Autor Thema: ALG II: Menschenwürde und Gerechtigkeit  (Gelesen 83171 mal)

Kallisti

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Re: ALG II: Menschenwürde und Gerechtigkeit
« Antwort #195 am: 07 Februar 2012, 02:08:26 »

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... welche (andere) Auffassung von Wirtschaft, Arbeit, Eigentum und Politik ergibt sich dann daraus? Und:
wie sieht diese veränderte "Persönlichkeits- und Charakterstruktur der Bürger" dann aus (deiner: persönlichen Auffassung nach)? ? ?
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Spambot

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Re: ALG II: Menschenwürde und Gerechtigkeit
« Antwort #196 am: 07 Februar 2012, 12:29:05 »

Ein Thema aus dem Bereich ALG II und Gerechtigkeit wurde noch gar nicht besprochen. Der Sozialbetrug.
Vermutlich kennt jeder irgendjemanden, der/die das ALG System mißbraucht, um sich materielle Vorteile zu verschaffen. In meinem weiteren Bekanntenkreis kenne ich nur 3 Fälle von ALG II-Beziehern und alle betrügen die Gemeinschaft indem sie behaupten, sie würden angeblich in einer Wohngemeinschaft mit dem Lebenspartner/der Lebenspartnerin leben. Das ist natürlich keine repräsentative Erfahrung, zeigt aber, dass es dieses Phänomen gibt. Es gibt natürlich auch noch andere Tricks, um sich Sozialleistungen zu erschleichen (angebliche Erstaustattung der Wohunung, gefälschte Mietverträge, Schwarzarbeit etc.).

Dieser Sozialbetrug ist wahrscheinlich einer der Gründe (neben den "ich-hab-kein-Bock-zu-arbeiten" Beziehern), weshalb es wenig Akzeptanz für höhere ALG II- und Sozialhilfe-Sätze unter den Steuerzahlern gibt. Gäbe es die Gewissheit, dass man nur Bedürftigen hilft, wäre die Bereitschaft zu teilen vermutlich höher. Für mich stellt sich die Frage, wie man diesen Mißbrauch des Solidaritätsprinzips in einer freien Gesellschaft effektiv unterbinden kann. Eine gute Lösung fällt mir dazu irgendwie nicht ein.

« Letzte Änderung: 07 Februar 2012, 12:35:30 von Spambot »
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CubistVowel

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Re: ALG II: Menschenwürde und Gerechtigkeit
« Antwort #197 am: 07 Februar 2012, 13:16:11 »

Vermutlich kennt jeder irgendjemanden, der/die das ALG System mißbraucht um sich materielle Vorteile zu verschaffen.

Und vermutlich kennt auch jeder noch viel mehr Leute, die das Finanzamt betrügen, um sich materielle Vorteile zu verschaffen... Beides nicht schön.

Übrigens ist auch dieses hier Sozialbetrug: Wenn Firmen oder sogar die öffentliche Hand Stellen streichen, um hinterher Hartz-4-Empfänger für einen Minilohn dieselbe Arbeit machen zu lassen. Oder wenn Firmen für Vollzeitarbeit Löhne zahlen, von denen die Arbeitenden nicht leben können und gezwungen sind, auf Kosten der Allgemeinheit aufstockend H4 zu beantragen. Oder Firmen, die unnötig Kurzarbeit anmelden, um Fördergeld zu kassieren. Privatisierte ehemalige Staatsbetriebe, die ihre "Altlast" an Beamten auf Kosten der Allgemeinheit massenhaft in Frühpension schicken. Oder Konzerne, die ihre bisherigen Angestellten in Leihfirmen outsourcen, um sie dann für die Hälfte des bisherigen Lohnes wieder einzustellen. ...

Diese Tendenz sorgt in viel nachhaltigerem Maße für eine Aushöhlung der Sozialsysteme, als es eine bestimmte Gruppe H4-Empfänger je könnte. Womit ich deren Betrug allerdings in keiner Weise gutheißen will. Erschreckend nur, dass der von den Firmen ausgeübte Sozialbetrug immer noch eine so große Akzeptanz in der Bevölkerung findet, obwohl die negativen Auswirkungen auf die Sozialsysteme wesentlich bedeutsamer sind. Da haben Leute wie Sarrazin, die Springer-Presse und die meistgesehenen Privatsender ganze Arbeit geleistet; der faule dumme Sozialschmarotzer, der seinen fetten Arsch nur bewegt, um Kippen und Schnaps zu besorgen. Den gibt es natürlich auch, aber wenn die Medien objektiver und lebensnäher über H4 berichten würden, wäre die Bereitschaft der übrigen Bevölkerung zum Teilen wahrscheinlich höher.

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Multivac

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Re: ALG II: Menschenwürde und Gerechtigkeit
« Antwort #198 am: 07 Februar 2012, 13:31:04 »

Eine gute Lösung fällt mir dazu irgendwie nicht ein.

1. die pflicht zu arbeiten
2. das recht zu arbeiten
3. qualifikationsgerechte beschäftigung
4. gesundheitsadäquate beschäftigung
5. lebensnotwendiger mindestlohn

daraus ergibt sich:

1. arbeit für jeden - keine arbeitlosen, keine gesundheitlich arbeitsunfähigen (bis auf schwere ausnahmen)
2. weniger arbeitszeit (da die ganze arbeit auf alle aufgeteilt wird)
3. notwendigkeit der sanften steuerung der ausbildungs-/studienwünsche/-einschreibungen/-angebote
4. sozialismus  :o
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Re: ALG II: Menschenwürde und Gerechtigkeit
« Antwort #199 am: 07 Februar 2012, 13:56:22 »

Diese Tendenz sorgt in viel nachhaltigerem Maße für eine Aushöhlung der Sozialsysteme, als es eine bestimmte Gruppe H4-Empfänger je könnte.

Da es für beide Formen des Sozialbetrugs keine offiziellen Zahlen geben kann, läßt sich deine Aussage nicht belegen oder widerlegen.
Grundsätzlich stimme ich dir zu, dass Sozialbetrug auf der Einnahmenseite natürlich auch das solidarische System erheblich belastet. Allerdings wirfst du bei deiner Aufzählung legale, illeagal und bestenfalls moralisch bedenkliche Handlungen durcheinander. Wenn man berücksichtigt, dass das kameralistische System sehr oft mit zweckungebundenen Haushalten arbeitet, wird klar, dass man die Einnahmen- und Ausgabenseite des Betrugs am Steuerzahler nur schwierig gleichzeitig betrachten kann. Hier halte ich eine getrennte Betrachtung für zielführender. Die Akzeptanz von Transferleistungen an Bedürftige durch die Steuerzahler ist vermutlich wesentlich stärker an die Ausgabenperspektive gebunden, da die Steuern dem abstrakt erscheinenden globalen Haushalt zugeführt werden.

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Re: ALG II: Menschenwürde und Gerechtigkeit
« Antwort #200 am: 07 Februar 2012, 14:08:24 »

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... welche (andere) Auffassung von Wirtschaft, Arbeit, Eigentum und Politik ergibt sich dann daraus? Und:
wie sieht diese veränderte "Persönlichkeits- und Charakterstruktur der Bürger" dann aus (deiner: persönlichen Auffassung nach)? ? ?
Hä? Das Zitat ist doch verlinkt.
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Re: ALG II: Menschenwürde und Gerechtigkeit
« Antwort #201 am: 07 Februar 2012, 14:35:27 »

Eine gute Lösung fällt mir dazu irgendwie nicht ein.

1. die pflicht zu arbeiten
2. das recht zu arbeiten
3. qualifikationsgerechte beschäftigung
4. gesundheitsadäquate beschäftigung
5. lebensnotwendiger mindestlohn

daraus ergibt sich:

1. arbeit für jeden - keine arbeitlosen, keine gesundheitlich arbeitsunfähigen (bis auf schwere ausnahmen)
2. weniger arbeitszeit (da die ganze arbeit auf alle aufgeteilt wird)
3. notwendigkeit der sanften steuerung der ausbildungs-/studienwünsche/-einschreibungen/-angebote
4. sozialismus  :o

Tja, in der Theorie klingt das immer so einfach. Man kann das größtenteils nur leider nicht auf das existierende Gesellschafts- und Wirtschaftssystem anwenden. Und da es keine funktionierende Alternative zu unserem Gesellschafts- und Wirtschaftssystem gibt, bleiben diese Ideen Utopien.
Der von den Gewerkschaften geforderte Mindestlohn wird sicherlich kommen. Da hat Frau Merkel sich bereits positiv zu geäußert.
Die (statistische) Vollbeschäftigung ist durch die demographische Entwicklung sicherlich auch nur noch eine Frage der Zeit. Durch die Überalterung der Gesellschaft werden wir davon aber keinen großen Nutzen haben.
Bei der Steuerung der Ausbildung wäre ein Versagen des Staates vorprogrammiert. Nicht nur, weil sich der zukünftige wirtschaftliche Bedarf kaum prognostizieren lässt, sondern auch weil man bei der Steurung von Studienplätzen in einigen Bereichen seit jeher versagt hat. Es werden beispielsweise jedes Jahr doppelt soviele Architekten wie benötigt ausgebildet. Und das seit Jahrzehnten. Ganz düster sieht es auch seit vielen Jahren bei verschiedenen Sozialwissenschaften aus (Soziologie, Politikwissenschaften etc.).
Die Idee mit der staatlich gesteuerten Aufteilung der Arbeit lässt sich wirklich nur im Sozialismus umsetzen. Und auch der hat schon über 100mal bewiesen, dass es nicht funktioniert.

Daher bleibt uns wohl nichts anderes übrig als die Schwächen im derzeitigen System durch ständige kleine Anpassungen innerhalb des Systems zu dämpfen. Perfekt wird das aber niemals werden.
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Re: ALG II: Menschenwürde und Gerechtigkeit
« Antwort #202 am: 07 Februar 2012, 15:36:36 »

Die Idee mit der staatlich gesteuerten Aufteilung der Arbeit lässt sich wirklich nur im Sozialismus umsetzen. Und auch der hat schon über 100mal bewiesen, dass es nicht funktioniert.
Die wissenschaftliche Begründung dafür, dass Sozialismus schon prinzipiell gar nicht funktionieren kann (ausser als totalitäres Regime mitsamt wirtschaftlichem Chaos und Niedergang, im ungünstigsten Falle mit Hunderten Millionen Toten) ist auch schon um die 100 Jahre alt (z. B. Mises in den 20ern). In Deutschland landeten die Printexemplare jedoch auf den Scheiterhäufen der Bücherverbrennung - weil nicht sein kann was nicht sein darf.

Aufrichtige sozialistische Überzeugungen und ökonomischer Sachverstand schliessen sich gegenseitig aus (es mag den einen oder anderen Sozi geben, der den begrenzten Horizont seiner Jugend zu erweitern vermochte, und gute Miene zum bösen Spiel macht - zum einem, um das schlimmste zu verhindern, zum anderen, um seine Karriere fortführen zu können).
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Re: ALG II: Menschenwürde und Gerechtigkeit
« Antwort #203 am: 07 Februar 2012, 15:52:36 »

Allerdings wirfst du bei deiner Aufzählung legale, illeagal und bestenfalls moralisch bedenkliche Handlungen durcheinander.

Ob legal oder nicht, trotzdem hat diese Auswahl an Methoden eines gemeinsam, nämlich dass sie zur Korrosion unserer Sozialsysteme beitragen.

Zitat
Da es für beide Formen des Sozialbetrugs keine offiziellen Zahlen geben kann, läßt sich deine Aussage nicht belegen oder widerlegen.

Auch wenn sich beides, die Bereicherung Einzelner am Sozialsystem und die systematische Unterwanderung des gesamten sozialen Prinzips durch politisch unterstützte Arbeitgeber natürlich nicht in Zahlen belegen lässt, halte ich - persönlich - Letzteres für gravierender.

Zitat
Die Akzeptanz von Transferleistungen an Bedürftige durch die Steuerzahler...

Dazu möchte ich nur kurz anmerken, dass auch Transferleistungsempfänger Steuerzahler sind. ;) Im Fall der ALG-II-Empfänger natürlich nicht durch direkte, sondern durch indirekte Steuerzahlung, z. B. Mehrwertsteuer. Da meistens das gesamte Geld für den Lebensunterhalt ausgegeben werden muss, fließt ein guter Teil der Transferleistung wieder zurück an den Staat.


Ich möchte in diesem Zusammenhang - ganz persönlich - auch noch Folgendes loswerden (jetzt nicht direkt an Spambot): Ich finde es ziemlich beschämend und peinlich entlarvend, wenn in einer so reichen Gesellschaft wie der unseren die Wohlhabenderen den Ärmsten, der untersten Schicht aus Arbeitslosen und Behinderten, so viel Hass und Missgunst entgegen bringen. Statt sich zu freuen, dass bei ihnen selbst der Versicherungsfall Arbeitslosigkeit oder Krankheit (noch) nicht eingetreten ist; dass sie also selbst (noch) in Lohn und Brot stehen, gut für sich sorgen können, gesund und im Besitz aller Grundrechte sind (die den Arbeitslosen von den Behörden oftmals abgesprochen werden) - statt dessen blicken sie neidisch auf die Arbeitslosen (und sogar auf die Behinderten) herab und missgönnen ihnen die vermeintlichen Vergünstigungen. Ziemlich widerlich in meinen Augen. Wie oft habe ich selbst schon gehört: "Oh toll, du bist schon in Rente, das hätte ich aber auch gern." Wenn ich könnte, würde ich übrigens jederzeit meine MS gegen deren Gesundheit eintauschen, dann können sie mal sehen, wie "toll" das ist.
« Letzte Änderung: 07 Februar 2012, 16:32:09 von CubistVowel »
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Re: ALG II: Menschenwürde und Gerechtigkeit
« Antwort #204 am: 07 Februar 2012, 16:41:09 »

Ich finde es ziemlich beschämend und peinlich entlarvend, wenn in einer so reichen Gesellschaft wie der unseren die Wohlhabenderen den Ärmsten, der untersten Schicht aus Arbeitslosen und Behinderten, so viel Hass und Missgunst entgegen bringen. Statt sich zu freuen, dass bei ihnen selbst der Versicherungsfall Arbeitslosigkeit oder Krankheit (noch) nicht eingetreten ist; dass sie also selbst (noch) in Lohn und Brot stehen, gut für sich sorgen können, gesund und im Besitz aller Grundrechte sind (die den Arbeitslosen von den Behörden oftmals abgesprochen werden) - statt dessen blicken sie neidisch auf die Arbeitslosen (und sogar auf die Behinderten) herab. Ziemlich widerlich in meinen Augen. Wie oft habe ich selbst schon gehört: "Oh toll, du bist schon in Rente, das hätte ich aber auch gern." Wenn ich könnte, würde ich übrigens jederzeit meine MS gegen deren Gesundheit eintauschen, dann können sie mal sehen, wie "toll" das ist.

Das von mir angesprochene Thema "Sozialbetrug" spielt bei dieser gesellschaftlichen Entwicklung sicherlich eine wichtige Rolle. Als Empfänger von Transferleistungen besteht anscheinend immer die Gefahr, dass andere Menschen zunächst einen potentiellen Sozialbetrüger erwarten. Nunja, zumindest Menschen die zu Vorurteilen neigen. Diese pauschale Abwertungstendenz wird, wie du vorher schon erwähnt hattest, sicherlich auch durch niveaulose Infotainmentsendungen im Fernsehen verstärkt. Zusätzlich versuchen die Behörden sich vor einem neuen Betrugsskandal durch immer neue bürokratische Absicherungs- und Überwachungsmethoden zu schützen. Am Ende ist der/die moralisch und rechtlich legitime Empfänger von Transferleistungen zahlreichen sozialen und rechtlichen Repressalien ausgesetzt. Nur wie kann man diese Entwicklung stoppen? Wenn man die rechtlichen Repressalien lockert, ist mit einem Anstieg des Sozialbetrugs zu rechnen. Die Folge wäre dann wahrscheinlich eine weitere pauschalisierte soziale Abwertung von Transferleistungsempfängern. So spontan fällt mir da keine gute Lösung für diese zutiefst unbefriedigende Situation ein.
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Re: ALG II: Menschenwürde und Gerechtigkeit
« Antwort #205 am: 07 Februar 2012, 16:46:07 »

So ist es... :(
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messie

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Re: ALG II: Menschenwürde und Gerechtigkeit
« Antwort #206 am: 08 Februar 2012, 20:57:38 »

Zitat
Dieser Sozialbetrug ist wahrscheinlich einer der Gründe (neben den "ich-hab-kein-Bock-zu-arbeiten" Beziehern), weshalb es wenig Akzeptanz für höhere ALG II- und Sozialhilfe-Sätze unter den Steuerzahlern gibt. Gäbe es die Gewissheit, dass man nur Bedürftigen hilft, wäre die Bereitschaft zu teilen vermutlich höher.

Ich denke, dass die Akzeptanz deswegen fehlt, weil es "die anderen" sind und man deswegen gerne auf die Schmarotzer sieht und letztlich gerne den ganzen Haufen ehrlicher ALGII-Empfänger übersieht.

Denn, mal ehrlich: Jeder Arbeitende wird in der Firma, in der er/sie arbeitet, mindestens eine Person kennen, die durch eine gemächliche bis schlimme Arbeitsmoral "glänzt".
Auch über diese regt man sich dann, völlig zu Recht, auf. Aber da käme doch garantiert niemand auf die Idee, die eigene Branche an den Pranger zu stellen! "Schlimm" sind immer nur die andern.
Hinzu kommt, dass die eigenen Unregelmäßigkeiten gerne bagatellisiert werden, während man ähnliche Vergehen Arbeitslosen nicht zugesteht, weil jene ja nichts leisten würden. Anders gesagt: Man selbst fühlt sich im Recht weil man ja etwas leistet, ja, sehr viel mehr leistet als der Staat es anerkennt, also hole man sich ja nur das zurück, was einem zustünde.
Ich bin mir recht sicher, dass mindestens jeder zweite Steuerbetrüger es auf diese Weise für sich begründet. ;)

Zitat
Diese pauschale Abwertungstendenz wird, wie du vorher schon erwähnt hattest, sicherlich auch durch niveaulose Infotainmentsendungen im Fernsehen verstärkt. Zusätzlich versuchen die Behörden sich vor einem neuen Betrugsskandal durch immer neue bürokratische Absicherungs- und Überwachungsmethoden zu schützen. Am Ende ist der/die moralisch und rechtlich legitime Empfänger von Transferleistungen zahlreichen sozialen und rechtlichen Repressalien ausgesetzt.

Das ergibt sich dann daraus: Durch gezielte Abwertung der lobbyarmen Arbeitslosen seitens der Medien entsteht ein Druck auf die Behörden, so repressiv wie möglich zu handeln, da die Berichterstattung auch sie selbst trifft. Es heißt dann ja nicht nur "Herr B., 10 Jahre HartzIV-Empfänger, fährt Porsche, wohnt in einem Traumhaus und bescheißt den Staat", sondern auch "Jahrelang hat das jobcenter weggesehen und Herrn B. Geld in den Hintern geblasen".

Zitat
Nur wie kann man diese Entwicklung stoppen?

Eine wichtige Entwicklung gibt es ja bereits: Die Tendenz zu Mindestlöhnen flächendeckend.
Sollten diese hoch genug liegen und es dadurch keine Aufstocker mehr geben, dann sinkt die Anzahl von HartzIV-Sozialschmarotzern. Logisch eigentlich, denn es gibt dann ja von heute auf morgen auf einmal Menschen in sechsstelliger Höhe, die plötzlich angemessen entlohnt werden und nicht mehr die Demütigung, trotz Arbeit zum Amt rennen zu müssen, erleiden müssen. Weniger HartzIV-Empfänger gleich weniger Sozialschmarotzer. Logisch eigentlich. :)

Eine zweite wäre, nicht nach einem Bestrafungs-, sondern nach einem Belohnungssystem zu arbeiten.
Diverse Krankenkassen tun es ja bereits: Wenn man soundsolange nicht krank war, gibt's eine Teilrückzahlung von Beiträgen.
Natürlich hat auch das seine Tücken, da sich Niedriglöhner dann lieber nicht krank melden oder Medikamente offiziell verschreiben lassen um an die "Prämie" zu kommen. Aber überlege man mal, wenn sie analog zu jobcentern handeln würden: Wenn jemand öfters krank ist erhöben sie Strafzahlungen fürs Kranksein. Kranke würden pauschal des Sozialschmarotzertums bezichtigt werden, es gäbe ja schließlich soundsoviele Simulanten die gar nicht krank sind und so ... ;)

Derzeit läuft das System da genau umgekehrt: Bewerbungstrainingkurse gibt's für die Leute die sich nicht bewerben (also faul sind) und nicht etwa für jene die es tun, aber ständig abgelehnt werden. Der Faulpelz wird damit belohnt!
Oder die von Vater Staat so vielgelobten 1€-Jobs: Wenn es tatsächlich so wäre dass massenhaft Leute in den ersten Arbeitsmarkt kämen, dann müsste man ja eigentlich den fleißigen Bewerbungsschreibenden diese geben. So ist's aber nicht, sie werden, gerne auch mal als Zwangsmaßnahme, den "schlechten Kunden", jene die keinen Finger krümmen, zugeschanzt!
Auch hier wird also der Faule belohnt.

Stichwort Fortbildung: Bildungsgutscheine, egal welcher Art, gibt's erst, wenn man mindestens 1 Jahr arbeitslos war. Das bedeutet: Jemand der erfolgreich ein Jahr lang alle Einstellungen zu verhindern wusste, der erhält eine Chance auf Fortbildung. Jener, der sofort wieder in den Arbeitsmarkt per Weiterqualifizierung einsteigen möchte - nicht.
Erneut wird der Faulpelz belohnt.

Leute werden gezwungen umzusiedeln, wenn ihre Wohnung zu teuer ist, sie müssen in eine günstigere ziehen, sonst werden Gelder gekürzt.
Umgekehrt aber, wenn jemand aus freien Stücken von einer günstigen Wohnung in eine noch günstigere zieht, was gibt's da? Nix! Die Miete wird bezahlt, also die entsprechend kleinere. Der ALGII-Empfänger hat von einem, den Staat sparenden, Umzug rein überhaupt nichts, er erhält schließlich exakt denselben Betrag wie vorher zum Leben.

Das ist nur ein winziger Ausschnitt desssen, wie dieses System funktioniert: Die Kooperativen werden bestraft, die Faulen belohnt. Die Ehrlichen (etwa jene die aus freien Stücken ihre finanziellen Verhältnisse offenlegen) haben mit Repressalien zu rechnen (wenn z.B. das Amt prompt in irgend einem Kontoauszug etwas entdeckt was es als "unbotmäßig" einstuft, etwa eine Überweisung eines Betrages von Verwandten zum Geburtstag, etc.). Jene die da die Klappe halten oder eben alles bar abwickeln damit das Amt davon nichts zu sehen bekommt, werden ... wieder einmal für dieses Verhalten belohnt. Schließlich bekommen sie so eben erst gar nicht irgendwelchen Stress vom Amt.

---

Wie sich das ändern lässt? - Na, ganz einfach! Nicht auf das Pferd "Bestrafung", sondern auf jenes namens "Belohnung" setzen.
Eben jenen, die sich fleißig bewerben, Fortbildungen finanzieren - und nicht etwa jenen, die es nicht tun.
Jenen, die kooperieren, unter die Arme greifen, anstatt jenen die es nicht tun mit Strafen zu drohen. Ein "die helfen mir, die kümmern sich" ist jedenfalls ein klares Argument das Sozialbetrug vermindert, während ein "die wollen es mir ja eh nur reindrücken" ihn fördert.

Ein zweiter Schritt wäre natürlich auch, mal das Personal in der Behörde aufzustocken, damit auch mal mehr Zeit für Akquise für die Arbeitsberater da ist und diese dann auch mal den Leuten Stellen anbieten können die dann wirklich doch mal halbwegs passen könnten. Denn dann wird's mit den Ausreden, warum man sich dort und dort und dort nun nicht beworben hätte nämlich auch ein bisschen schwieriger. ;)
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Re: ALG II: Menschenwürde und Gerechtigkeit
« Antwort #207 am: 19 Februar 2012, 13:05:36 »

Wie cool ist das denn?! :)

Großbäckerei schafft Ausbildungsplätze für Ü-50-Jährige

So geht's auch: ungelernte Arbeitskräfte kreativ fördern, anstatt sie mit Minilöhnen auszubeuten. \o/
« Letzte Änderung: 19 Februar 2012, 13:09:35 von CubistVowel »
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Re: ALG II: Menschenwürde und Gerechtigkeit
« Antwort #208 am: 19 Februar 2012, 18:14:53 »

Tolles Projekt, wäre schön, wenn das Schule macht.  :)
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Re: ALG II: Menschenwürde und Gerechtigkeit
« Antwort #209 am: 23 Februar 2012, 17:26:06 »

Die DGB-Arbeitslosengruppe Bonn hat die "Saure Gurke" 2011 an Amazon vergeben. ;D

"Alljährlich zu Aschermittwoch verleiht die Gewerkschaftliche Erwerbslosengruppe im DGB Bonn / Rhein-Sieg die „Saure Gurke“, um damit eine öffentlich wirkende Persönlichkeit auszuzeichnen, die sich im zurückliegenden Jahr durch einen hervorragenden Beitrag zur „Beleidigung, Ausgrenzung oder weiteren Verschlechterung der sozialen Lage der Erwerbslosen“ hervorgetan hat."

"Wir wollen nicht verschweigen, dass nach unserer Auffassung an dieser von den Amazon Logistikzentren in Deutschland geübten Praxis von Mitnahmeeffekten nur die Spitze eines Eisberges auf dem Arbeitsmarkt sichtbar wird: Dies ist eine Fehlentwicklung, die der Öffnung für prekäre und atypische Beschäftigungsmodelle durch die sog. Hartz-IV-Reformen zu verdanken ist. Unter dieser Fehlentwicklung leiden Erwerbslose um so häufiger und härter, da sie durch die Sanktionspolitik der Arbeitsverwaltung zu prekärer Arbeit gezwungen werden können."

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