Schwarzes Hamburg

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Autor Thema: Lyrik / Poesie bekannter Autoren  (Gelesen 18836 mal)

BetterOf2Evils

  • Gast
Lyrik / Poesie bekannter Autoren
« Antwort #15 am: 22 November 2004, 08:59:02 »

Manche freilich      
(Hugo von Hofmannsthal)

Manche freilich müssen drunten sterben
wo die schweren Ruder der Schiffe streifen,
andere wohnen bei dem Steuer droben,
kennen Vogelflug und die Länder der Sterne.
 
Manche liegen mit immer schweren Gliedern
bei den Wurzeln des verworrenen Lebens,
anderen sind die Stühle gerichtet
bei den Sibyllen, den Königinnen,
und da sitzen sie wie zu Hause,
leichten Hauptes und leichter Hände.
 
Doch ein Schatten fällt von jenen Leben
in die anderen Leben hinüber,
und die leichten sind an die schweren
wie an Luft und Erde gebunden.
 
Ganz vergessener Völker Müdigkeiten
kann ich nicht abtun von meinen Lidern,
noch weghalten von der erschrockenen Seele
stummes Niederfallen ferner Sterne.
 
Viele Geschicke weben neben dem meinen,
durcheinander spielt sie all das Dasein,
und mein Teil ist mehr als dieses Lebens
schlanke Flamme oder schmale Leier.
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BetterOf2Evils

  • Gast
Lyrik / Poesie bekannter Autoren
« Antwort #16 am: 22 November 2004, 08:59:51 »

Wie eine Welle
(Hesse)


Wie eine Welle, die vom Schaum gekränzt
Aus blauer Flut sich voll Verlangen reckt
Und müd und schön im großen Meer verglänzt -
Wie eine Wolke, die im leisen Wind
Hinsegelnd aller Pilger Sehnsucht weckt
Und blaß und silbern in den Tag verrinnt -
Und wie ein Lied am heißen Staßenrand
Fremdtönig klingt mit wunderlichen Reim
Und dir das Herz entführt weit über Land -
So weht mein Leben flüchtig durch die Zeit,
Ist bald vertönt und mündet doch geheim
Ins Reich der Sehnsucht und der Ewigkeit.
Gespeichert

BetterOf2Evils

  • Gast
Lyrik / Poesie bekannter Autoren
« Antwort #17 am: 22 November 2004, 09:02:35 »

Klage
(Hesse Januar 1934)

Uns ist kein Sein vergönnt. Wir sind nur Strom,
Wir fließen willig allen Formen ein:
Dem Tag, der Nacht, der Höhle und dem Dom,
Wir gehn hindurch, uns treibt der Durst nach Sein.

So füllen Form um Form wir ohne Rast,
Und keine wird zur Heimat uns, zum Glück, zur Not,
Stets sind wir unterwegs, stets sind wir Gast,
Uns ruft nicht Feld noch Pflug, uns wächst kein Brot.

Wir wissen nicht, wie Gott es mit uns meint,
Er spielt mit uns, dem Ton in seiner Hand,
Der stumm und bildsam ist, nicht lacht noch weint,
Der wohl geknetet wird, doch nie gebrannt.

Einmal zu Stein erstarren! Einmal dauern!
Danach ist unsre Sehnsucht ewig rege,
Und bleibt doch ewig nur ein banges Schauern,
Und wird doch nie zur Rast auf unsrem Wege.


*wie wahr, wie wahr*
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Kallisti

  • Gast
Lyrik / Poesie bekannter Autoren
« Antwort #18 am: 22 November 2004, 09:07:46 »

Wähne nicht

Betty Paoli


Wähne nicht, daß in dem Weltgewühle,
Je ein Herz so wie das Deine fühle,
Daß ein andres folge Deiner Spur.
Wähne nicht, in sehnendem Umschlingen,
Andrer Herzen also durchzudringen,
Daß sie mit dem Deinen eines nur.

Einsam bist Du, ob die bunte Menge,
Lobend oder tadelnd Dich umdränge,
Einsam in dem Kampf wie in der Ruh.
Einsam, bei der Freunde Scheinerbarmen,
Einsam selbst in Deines Liebsten Armen,
Denn sie alle sind nur sie, nicht Du.

Lerne drum, aus ihrem Kreis verschwinden,
Dich in Deiner eignen Brust zurechtzufinden,
Lerne Du, Dein eigner Freund zu sein!
Alle Schwüre, die sie Dir versprechen,
Unwillkürlich werden sie sie brechen.
Deines Lebens Losung heißt: Allein!





(... jede Zeile: Wahrheit !)
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Kallisti

  • Gast
Lyrik / Poesie bekannter Autoren
« Antwort #19 am: 22 November 2004, 09:09:07 »

@Betterof2Evils

... wir sind wohl grade in ähnlicher Stimmung ...    ;)
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BetterOf2Evils

  • Gast
Lyrik / Poesie bekannter Autoren
« Antwort #20 am: 22 November 2004, 09:11:17 »

Einsam bist du sehr alleine
(Erich Kästner 1947)

Aus der Wanduhr tropft die Zeit.
Stehst am Fenster. Starrst auf Steine.
Träumst von Liebe. Glaubst an keine.
Kennst das Leben. Weißt Bescheid.

Einsam bist du sehr alleine -
und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.

Wünsche gehen auf die Freite.
Glück ist ein verhexter Ort.
Kommt dir nahe. Weicht zur Seite.
Sucht vor Suchenden das Weite.
Ist nie hier. Ist immer dort.
Stehst am Fenster. Starrst auf Steine.
Sehnsucht krallt sich in dein Kleid.

Einsam bist du sehr alleine -
und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.

Schenkst dich hin. Mit Haut und Haaren.
Magst nicht bleiben, wer du bist.
Liebe treibt die Welt zu Paaren.
Wirst getrieben. Musst erfahren,
dass es nicht die Liebe ist ...

Bist sogar im Kuss alleine.
Aus der Wanduhr tropft die Zeit.
Gehst ans Fenster. Starrst auf Steine.
Brauchtest Liebe. Findest keine.
Träumst vom Glück. Und lebst im Leid.

Einsam bist du sehr alleine -
und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.


 :?  
Oh mann, ich und meine traurigen (Liebes-)Gedichte... *schlimmschlimm*
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BetterOf2Evils

  • Gast
Lyrik / Poesie bekannter Autoren
« Antwort #21 am: 22 November 2004, 09:14:41 »

Zitat von: "Kallisti"
@Betterof2Evils

... wir sind wohl grade in ähnlicher Stimmung ...    ;)


Kallisti, da hast Du ja mal den richtigen Thread für mich eröffnet!!  :)   :biglaugh: Ich könnt ja hier ständig was posten....

...aber nu leg ich erstmal nen Päuschen ein.. wir wollen die werten Leser ja nicht "lyrisch zudecken"  :o
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Kallisti

  • Gast
Lyrik / Poesie bekannter Autoren
« Antwort #22 am: 22 November 2004, 09:18:53 »

Laß mich dir entfalten

Friedrich Nietzsche


Laß mich dir entfalten
Mein verschlossen Herz!
Deiner Liebe heimlich Walten
Ruht so gnadenvoll und mild
Auf meinem kalten,
Welteinsamen Schmerz,
Daß von Sehnsucht quillt
In mir nach dir,
Du lichte Himmelskerz´!

Laß mich dir erschließen,
Wie mich übertaut
Deines Geistes heimlich Grüßen,
Wenn du auf mich hingeblickt
Zu deinen Füßen
Und mich lieb und traut
An dich gedrückt,
Selig war ich,
Mein Herz schlug mir so laut.




(... unter Tränen...    - "noch" immer : in Trauer... )
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Kallisti

  • Gast
Lyrik / Poesie bekannter Autoren
« Antwort #23 am: 22 November 2004, 09:27:52 »

Engellieder

Rainer Maria Rilke


Ich ließ meinen Engel lange nicht los,
und er verarmte mir in den Armen
und wurde klein, und ich wurde groß:
und auf einmal war ich das Erbarmen,
und er eine zitternde Bitte bloß.

Da hab ich ihm seinen Himmel gegeben, -
und er ließ mir das Nahe, daraus er entschwand,
er lernte das Schweben, ich lernte das Leben,
und wir haben langsam einander erkannt...

Seit mich mein Engel nicht mehr bewacht,
kann er frei seine Flügel entfalten
und die Stille der Sterne durchspalten, -
denn er muß meine einsame Nacht
nicht mehr die ängstlichen Hände halten -
seit mich mein Engel nicht mehr bewacht.

Hat auch mein Engel keine Pflicht mehr,
seit ihn mein strenger Tag vertrieb,
oft senkt er sehnend sein Gesicht her
und hat die Himmel nicht mehr lieb.

Er möchte wieder aus armen Tagen
über der Wälder rauschendem Ragen
meine blassen Gebete tragen
in die Heimat der Cherubim ...


(... wenn es nur so wäre - wenn es "Engel" gäbe, wenn es "Ewigkeit" gäbe, wenn "die Seele" doch unsterblich wär - wenn es doch ein "Wiedersehen" gäbe ... !)
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BetterOf2Evils

  • Gast
Lyrik / Poesie bekannter Autoren
« Antwort #24 am: 22 November 2004, 09:28:09 »

Na guuuut, ein wunderbares und wahres Gedicht von Hesse noch:

Stufen

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne
,
um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
in andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
an keinem wie an einer Heimat hängen,
der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
des Lebens Ruf an uns wird niemals enden….
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!



@Kallisti, Wähne nicht von Betty Paoli find ich sehr schön!
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Kallisti

  • Gast
Lyrik / Poesie bekannter Autoren
« Antwort #25 am: 22 November 2004, 09:44:22 »

Übergang II

Axel Görlach
(aus "Auszeit", Anthologie, Edition L)


hebt sich schwer die Brust als hätte jedes
jener dreiundachtzig Jahre sein Gewicht und
dieses letzte schließlich drückt so unerbittlich dir
das Atmen nieder dass deine sonst so
unerschrockne feste Stimme nur ein leises
loses Stammeln ist doch ich weiß
es ist das Wasser das du liebst so wie den Wind
das dir die Lunge überfüllt bis hin
zur letzten Alveole und du den Gasaustausch
jetzt gegen irgendetwas Unbekanntes Andres
tauschst das macht dir Angst und deine
ausgestreckte Hand greift nach der Fülle
früher Bilder wie nur du sie siehst als könntest du
dich daran halten doch mich lässt das nicht mehr los
was sie mir sagte dass du dein schwindendes
Bewusstsein einmal noch so ganz
zusammennahmst und meinen Namen deutlich
fragend in die Leere sprachst und ich
nicht da war nicht an deinen Lippen saß





(... ja: das lässt mich nie mehr los ...)
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Kenaz

  • Gast
Lyrik / Poesie bekannter Autoren
« Antwort #26 am: 22 November 2004, 09:47:59 »

Spät im Jahre

Spät im Jahre, tief im Schweigen
dem, der ganz sich selbst gehört,
werden Blicke niedersteigen,
neue Blicke, unzerstört.

Keiner trug an deinen Losen,
keiner frug, ob es gerät -,
Saum von Wunden, Saum von Rosen -,
weite Blicke, sommerspät.

Dich verstreut und dich gebunden,
dich verhüllt und dich entblößt -,
Saum von Rosen, Saum von Wunden -,
letzte Blicke, selbsterlöst.

Gottfried Benn
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BetterOf2Evils

  • Gast
Lyrik / Poesie bekannter Autoren
« Antwort #27 am: 22 November 2004, 09:53:09 »

Och menno, Kenaz, wenn Du auch noch mit G. Benn kommst, MUSS ich ja geradzu noch n Gedicht posten....  :roll:

Abschied
(Gottfried Benn)

Du füllst mich an wie Blut die frische Wunde
und rinnst hernieder seine dunkle Spur,
du dehnst dich aus wie Nacht in jener Stunde,
da sich die Matte färbt zur Schattenflur,
du blühst wie Rosen schwer in Gärten allen,
du Einsamkeit aus Alter und Verlust,
du Überleben, wenn die Träume fallen,
zuviel gelitten und zuviel gewusst.
 
Entfremdet früh dem Wahn der Wirklichkeiten,
versagend sich der schnell gegebenen Welt,
ermüdet von dem Trug der Einzelheiten,
da keine sich dem tiefen Ich gesellt;
nun aus der Tiefe selbst, durch nichts rühren,
und die kein Wort und Zeichen je verrät,
musst du dein Schweigen nehmen, Abwärtsführen
zu Nacht und Trauer und den Rosen spät.
 
Manchmal noch denkst du dich --: die eigene Sage --:
das warst du doch --? ach, wie du dich vergasst!
war das dein Bild? war das nicht deine Frage,
dein Wort, dein Himmelslicht, das du besasst?
Mein Wort, mein Himmelslicht, dereinst besessen,
mein Wort, mein Himmelslicht, zerstört, vertan --
wem das geschah, der muss sich wohl vergessen
und rührt nicht mehr die alten Stunden an.
 
Ein letzter Tag --: spätglühend, weite Räume,
ein Wasser führt dich zu entrücktem Ziel,
ein hohes Licht umströmt die alten Bäume
und schafft im Schatten sich ein Widerspiel,
von Früchten nichts, aus Ähren keine Krone
und auch nach Ernten hat er nicht gefragt --
er spielt sein Spiel, und fühlt sein Licht und ohne
Erinnern nieder -- alles ist gesagt.
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Kenaz

  • Gast
Lyrik / Poesie bekannter Autoren
« Antwort #28 am: 22 November 2004, 09:57:26 »

Jena

"Jena vor uns im lieblichen Tale"
schrieb meine Mutter von einer Tour
auf einer Karte vom Ufer der Saale,
sie war in Kösen im Sommer zur Kur;
nun längst vergessen, erloschen die Ahne,
selbst ihre Handschrift, Graphologie,
Jahre des Werdens, Jahre der Wahne,
nur diese Worte vergesse ich nie.

Es war kein berühmtes Bild, keine Klasse,
für lieblich sah man wenig blühn,
schlechtes Papier, keine holzfreie Masse,
auch waren die Berge nicht rebengrün,
doch kam man vom Lande, von kleinen Hütten,
so waren die Täler wohl lieblich und schön,
man brauchte nicht Farbdruck, man brauchte nicht Bütten,
man glaubte, auch andere würden es sehn.

Es war wohl ein Wort von hoher Warte,
ein Ausruf hatte die Hand geführt,
sie bat den Kellner um eine Karte,
so hatte die Landschaft sie berührt,
und doch - wie oben - erlosch die Ahne
und das gilt für alle und auch für den,
die - Jahre des Werdens, Jahre der Wahne -
heute die Stadt im Tale sehn.

Gottfried Benn


@ Bedde: Jaja, Benn ist einer meiner Allerliebsten!  :)  - "Die Liebe" von Reiner Kunze fand ich übrigens sehr, sehr schön.
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Kallisti

  • Gast
Lyrik / Poesie bekannter Autoren
« Antwort #29 am: 22 November 2004, 10:00:36 »

Tage nach Neujahr

Horst Saul


Die grellen Fenster sind zersprungen
an Wolken, die stets unstet leben,
und ist der Anfang auch gelungen
das Ende erst wird Antwort geben.
Ich schreibe viel ins Buch der Tage
von Trauer und vom kleinen Glück,
doch immer kehrt die alte Frage
nach Sinn und Ziel zu mir zurück.

Im Garten nur die Zaubernuss
sie streichelt mich mit ihrem Kuss
an Tagen, die wie Nächte sind.
Sie machen fast vor Trübnis blind
und wollen meinen Geist bewohnen.
Sie sollten für die Mühe lohnen,
wenn wilde Stürme Meere falten,
das Herzschiff auf dem Kurs zu halten
zu Ufern, die aus Hoffnung sind.



(aus: "Auszeit", Edition L)
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