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Wahlrecht mit 16?
nightnurse:
Ich sagte ja auch "etwas" :)
Und das Problem mit dem eigenständigen Denken und der Fähigkeit dazu sehe ich seit Jahren auch.
Ich halte mich nun selbst nicht für die bestinformierte Person im Bundesgebiet und frage mich manchmal, wie ich wohl zu diesem oder jenem Thema zu einer Meinung kommen soll. Wenn ich mich dann umgucke, aus welchen Gründen wer wen wählt, dann gruselt es mich immer.
Ich fürchte aber, daß das keine Altersfrage ist.
Eine Prüfung...nun, dem Nachwuchs kann man die nötige Bildung (und die geht m.E über "bis 3 zählen" sehr weit hinaus, die "nötige Minimalbildung") in der Schule aufdrücken, aber wie will man die Chancen, eine solche Prüfung zu bestehen, bei den jetzt schon Erwachsenen nachteilsfrei verteilen? Da gibt es nun mal verschiedene Bildungslevel (und *im Flüsterton* verschiedene Intelligenzlevel), die Möglichkeiten, sich zu informieren und weiterzubilden sind auch durch Dinge wie Beruf und Familie und Geldbeutel eingeschränkt.
Da sehe ich Deinen Vorschlag problematisch werden, in der Umsetzung.
(Nun könnte man sagen, wenn alle, die zu faul sind, sich auf eine Prüfung vorzubereiten, das Wahlrecht abgäben, hätten wir schonmal was gewonnen. Aber das wäre mir zu zynisch und zu einfach.)
colourize:
Das Wahlrecht nur an Menschen zu vergeben, die eine wie auch immer geartete "Prüfung" bestanden haben, würde bedeuten den demokratischen Grundgedanken aufzugeben. Dieser besagt nämlich nicht, dass die Teilnahme an einer Wahl an Voraussetzungen gekoppelt ist, sondern vielmehr, dass alle Mitglieder eines Volkes ("Demos" heißt genau das) die Macht ausüben ("kratos" = Macht). Mal von der Frage, was denn da bitte geprüft werden sollte um die "Eignung zur Wahlteilnahme" festzustellen, mal völlig abgesehen... - bis drei zu zählen ja vermutlich nicht.
Nein, *wenn* wir Demokratie als Herrschaftssystem wollen, dann kann es nur so gehen, dass das Wahlrecht nicht an Voraussetzungen gekoppelt ist. Vor diesem Hintergrund ist an sich schon die Einführung einer Altersgrenze problematisch (und wird ja aufgrund dessen auch diskutiert). Nun liegt es nahe, dass man einen Stift halten können muss um seine Meinung durch ein gezieltes Kreuzchen zu dokumentieren, und ja, idealer Weise brauchts auch gewissen kognitiven Fähigkeiten. Ab welchem Alter diese Fähigkeiten erreicht sind ist natürlich individuell verschieden. Bei manchen mit 16, bei anderen vielleicht mit 18 und sicher auch bei einigen Menschen niemals. Bei den senilen Insassen der Pflegeheime, die nicht selten allesamt für ein und dieselbe Partei stimmen (meistens für die, die der Heimleiter am besten findet), stellt sich die Frage ob sie diese Fähigkeiten NOCH besitzen....
Die Frage ist also: was bringt das demokratische System mehr in Gefahr? Dass demente Altenheiminsassen, 19-jährige Prollkids, RTL-Gucker und Erdbeerkäse-Nadine gleichsam Wahlrecht haben? Oder dass das Wahlrecht an eine dubiose "Eignungsprüfung" gekoppelt wird, über deren Gegenstand mit Sicherheit niemals ein Konsens zu erreichen wäre und der zudem die Demokratie de facto in eine Aristokratie überführte?
Davon vollkommen abgesehen sehe ich unser politisches System, das sich Demokratie nennt, nicht dadurch in Gefahr dass jeder im Volk eine Stimme hat - ganz gleich wie doof er auch sein mag. Erstens gerät unser System derzeit dadurch in Gefahr, dass die Macht da facto nicht vom Parlament ausgeht, sondern von unserem Wirtschaftsystem, Rating Agenturen und dem Bankenwesen. Diese geben die notwendigen politischen Entscheidungen vor, die dann - als "alternativlos" dargestellt - im Parlament legitimiert werden. Eine Opposition, die eine Handlungsalternative vorschlägt, gibt es doch de facto nicht - siehe die Abstimmung zu den Krediten für spanische Banken gestern im Bundestag. Wenn es aber keine Alternativen gibt, dann sind auch Wahlen ziemlich sinnlos.
Zweitens gerät das demokratische System durch die Beschleunigung sämtlicher Entscheidungen in Gefahr. Wenn andauernd heute über etwas entschieden werden muss, was gerade mal gestern passiert ist ("Keine Kredite mehr für Spanien!", "Fukushima!" etc.), dann bleibt keine Zeit zum Nachdenken mit kühlem Kopf und kluge Beratungen. Ein Panik-Parlament winkt blind Gesetze durch - welche Typen ins Parlament gewählt wurden erscheint da eher als Nebensache.
Drittens führen uns die jüngeren Fälle ACTA, der Mappus-Notheis-Deal sowie die jüngste Novelle des Meldegesetzes eindrucksvoll vor Augen, dass unsere Parlamentarier sich von PR-Maschen genauso blenden lassen wie das angeblich so dumme Wahlvolk. Egal ob ACTA-Befürworter, Datenhandel-Fürsprecher oder Mappus: allesamt entpuppen sich als lobbyistengelenkte Marinetten, die genau die Sprüche aufsagen, die ihnen die PR-Berater der entsprechenden Interessensgruppen zuvor gesteckt haben. Leider scheint parlamentarische Kontrolle nicht stattzufinden - und wo sie droht (BaWü) werden von den höchsten Vertretern unserer Demokratie (MP Mappus) bewusst und in hinterhältiger Absicht Schleichwege begangen um die parlamentarische Demokratie auszuhebeln. Wer mag sich angesichts dessen noch über "Politikverdrossenheit" und wachsende Nichtwählerzahlen wundern?
Ich bin mir jedenfalls ganz sicher: Diese drei Punkte sind eine viel, viel stärkere Gefahr für die Zukunft unseres politischen Systems als die Frage danach, wer wählen darf und wer nicht.
sYntiq:
--- Zitat von: nightnurse am 20 Juli 2012, 12:12:09 ---Mehr politische Bildung an Schulen wäre sicher wünschenswert,...
--- Ende Zitat ---
Auch das sehe ich irgendwie recht zwiespältig. Generell ist mehr politische Bildung natürlich nicht verkehrt, aber wenn ich da zB. an meine Schulzeit zurückdenke...
Für unseren Lehrer in "Politik und Gemeinschaftskunde" war politisch eigentlich immer nur das richtig und vernünftig, was die FDP sagt/macht/denkt. Alle anderen Partiene machen ja im Endeffekt eh nur Müll (es sei denn es deckt sich mit dem Programm der FDP).
Was hilft einem also "mehr politische Bildung" wenn diese letzten endes doch sehr Einseitig gefärbt ist?
Kallisti:
--- Zitat von: sYntiq am 20 Juli 2012, 12:41:52 ---
Das klappt doch schon in so einem kleinen Kreis wie diesem Forum so gar nicht. Bei welcher Diskussion gab es denn zuletzt mal ein "Ich bin zwar eigentlich komplett anderer Meinung, kann deinen Standpunkt aber nachvollziehen und wäre aus der Sicht wohl auch der gleichen Meinung wie du".
--- Ende Zitat ---
HIER! Ich kann mich colourize (´ letztem post) in allen Punkten ohne einen einzigen Einwand, Vorbehalt, Aber anschließen, zustimmen, gleicher Meinung sein - ganz ohne Flachs und Schleim.
nightnurse:
Erstmal Dank an colourize für die umfassende und wohlformulierte Darstellung all dessen, was mir Bauchschmerzen bereitet :)
sYntiq: Lehrer, die politisch gefärbten Unterricht von sich geben, gehören...na, zunächst mal zur Ordnung gerufen.
Aber: Immerhin hattet Ihr ein Fach namens "Politik und Gemeinschaftskunde". Das gab es an meinem Gymnasium (wo man sehr von der Rolle als Bildungsstätte der Elite der Nation überzeugt war) gar nicht, als ich zur Schule ging. Wie die Bundesrepublik ungefähr funktioniert, kam in der Oberstufe in Geschichte mal dran.
Ich bin sicher, daß es unterrichtliche Mittel und Wege gäbe, jungen Menschen die Dinge, die Du in Deinem letzten Post geschrieben hast, näherzubringen, ohne dabei buchstäblich Partei zu ergreifen (z.B. gemeinschaftliche Analyse des Tagesgeschehens auf seine "Was heisst das wirklich, was passiert dann"-Potentiale, sowas mussten wir immer mit alten Quellen tun).
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