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Wahlrecht mit 16?
Julya:
--- Zitat von: nightnurse am 20 Juli 2012, 13:05:44 ---Erstmal Dank an colourize für die umfassende und wohlformulierte Darstellung all dessen, was mir Bauchschmerzen bereitet :)
--- Ende Zitat ---
Ja, dem schließe ich mich an.
---
Ich bin auch nicht so pessimistisch, was Wahlen oder Demokratie im Allgemeinen angeht.
Wir haben es verdammt gut, in einer Demokratie leben zu dürfen und somit die Möglichkeit zu haben, wählen zu können.
Als ich 16 war, wurde bei uns in Niedersachsen ein Wahlrecht für 16-jährige auf kommunaler Ebene (wenn ich mich richtig erinnere) zum ersten Mal getestet und bis auf die Tatsache, daß die Wahlbeteiligung -wie immer- zu niedrig war, hatte es keine spürbaren Auswirkungen.
Ich weiß noch, daß ich persönlich es total toll fand, wählen zu dürfen, aber so um die 90% der Leute in meinem Alter hatte schlichtweg kein Interesse daran.
Ich denke, derjenige der wählen geht, hat sich zumindest ansatzweise Gedanken darüber gemacht, wen er wählt. Ob ich es nun gut finde, wenn jemand die CDU, die FDP oder die NPD wählt, spielt für den Grundgedanken der Demokratie keine Rolle.
Andere Regierungsformen mögen für bestimmte Interessengruppen einfacher und angenehmer sein (möglicherweise sogar für die Bürger dieser Länder selbst. Siehe DDR: "Naja, SO schlimm war's ja nich. Hatten ja alle Arbeit... uns ging's ja gut..."), aber man gibt auch jegliche Selbstbestimmung ab.
Also, ich bin für ein Wahlrecht ab 16 Jahren, allerdings in Verbindung mit (besserer) politischer Aufklärung.
banquo:
--- Zitat von: nightnurse am 20 Juli 2012, 12:12:09 ---
(Kenaz, Du klingst grad etwas nach "Staship Troopers", also, dem Buch. Hat das irgendwer hier mal gelesen? Der gute Herr Heinlein koppelt da das Wahlrecht an den Willen zur Verteidigung der Demokratie mit Waffen und wirft auch sonst allerhand problematische Vorschläge in den Raum.)
--- Ende Zitat ---
Funny: das war auch meine erste Assoziation.
'Service Guarantees Citizenship'.
Ich bin aber auch allgemein kein Heinlein-Fan. *anmerk*
Ansonsten ist der Vorschlag ja nicht neu: ich erinnere mich da an ein Bühnenprogramm von Volker Pispers, wo er meinte:
"jeder der wählen will, sollte vorher erklären müssen, was wichtiger ist, Erststimme oder Zweitstimme. Wer das nicht kann, kann gleich wieder heimgehen und noch 4 Jahre drüber nachdenken - so wichtig kann es ihm ja dann nicht gewesen sein. Ansonsten hat man da ja eine 50/50-Chance - das könnte sogar ein Schimpanse schaffen."
Auf der anderen Seite: siehe den Text von colourize. Was nützt es, wenn die mündigen Bürger immer beweisen dass sie wissen wie es sein sollte, wenn dann in der Realität sowieso egal ist wen man wählt, weil die alternativlosen Entscheidungen ganz woanders vorbereitet und im Parlament nur noch durchgedrückt werden?
messie:
Kann man nicht auch die Wahlberechtigtenaltersgrenze absenken? So auf U80 oder so? 8)
Ernsthaft: Sich nur an extreme Negativbeispiele zu klammern um zu sagen "bloß nicht!" halte ich für typisches Stammtischdenken. "Seht her, diese 16jährigen Checker die von nix ne Ahnung haben, und die sollen wählen können? Bloß nicht!"
Mit 16 schließt man die Hauptschule ab und die Realschule ebenfalls in den meisten Fällen. Es ist das Alter, in dem sich grundlegende Fragen stellen (Arbeitssuche, Ausbildungssuche) und politische Themen für diese Personen automatisch einen höheren Stellenwert erhalten. (Im Gegensatz zu den Abiturienten, die haben ja schließlich noch 2 Jahre vor sich - soviel zu Argumenten pro Bildung und so ...)
Wieso also diesen unisono politische Unbildung nachsagen? Das ist für mich etwas genauso Schäbiges wie allen HartzIV-Empfängern "faule Nixtuer" hinterherzurufen, allen Beamten "so wie die arbeiten, machen andere Urlaub" oder Studenten "vor 12 Uhr mittags stehn die ja eh nicht auf, sind ja eh nur zu faul zum Arbeiten".
Ein Argument könnte noch sein, dass 15jährige, die zum Wahlzeitpunkt 16 sind, zu sehr beeinflussbar sein könnten.
Öh, da frage ich dann mal ganz unschuldig: Alle anderen sind also nicht beeinflussbar, hmmm?
Rentner über 70, niemals beeinflussbar? Menschen in Problemvierteln? ...?
Ich bin der Meinung, dass es nicht aufs Wahlalter ankommt, sondern auf die Transparenz politischer Inhalte. Mehr direkte Demokratie sorgt für mehr Politikbewusstsein der Bürger. Kommt dann noch eine gesetzliche Verankerung hinzu, dass beide Seiten, pro- wie contra-Argumente, den Bürgern vorgelegt werden müssen, dann lässt sich sehr viel besser Demokratie leben als mit solchen Scheingefechten rund um das Wahlalter.
Eisbär:
Auf der einen Seite verstehe ich Kenaz' völlig. Wenn man wählen geht, sollte man zumindest wissen, welche Parteien im jeweiligen Parlament bisher vertreten waren, welche Parteien die Regierung stellen und für was bzw. gegen was sie in der bisherigen Legislaturperiode so ungefähr eingetreten sind. Wenn ich manche Menschen so reden höre, mach ich auch innerlich Facepalm und denk mir "Und sowas darf wählen".
Auf der anderen Seite hat colourize natürlich Recht, Demokratie wäre das dann nicht mehr (obwohl es ja jedem frei stünde, sich politisch zu informieren und somit auf eine Prüfung vorzubereiten).
Ich hab selber oft damit geflachst, man solle Prüfungen vor Wahlen abhalten und je besser die Person abschneidet, um so mehr Stimmen bekommt sie. Ein BILD-Abo disqualifiziert von der Wahl.
Fakt ist aber auch, dass ich gerade von den Menschen, bei denen ich nur mit dem Kopfschütteln kann, was ihre politische Bildung betrifft, immer wieder zu hören bekomme, sie gehen nicht zur Wahl, nütze ja eh nichts. Ich denke, dass das keine Ausnahmen sind, sondern eher die Regeln. Jemand der politisch völlig ungebildet ist, neigt i.A. eh dazu, nicht wählen zu gehen.
Ich denke, dass genau das auch in besonderem Maße auf 16jährige zutreffen dürfte. Wer sich nicht dafür interessiert, der wählt auch nicht. Wer sich interessiert, der ist i.A. auch informiert.
Kenaz:
--- Zitat von: sYntiq am 20 Juli 2012, 12:41:52 ---Naja, "Mindestbildung" und "bis 3 zählen" reicht meiner Meinugn nach bei weitem nicht aus um vernünftig wählen zu können. Ich hatte bei der Überlegung gleich noch einiges mehr im Hinterkopf.
--- Ende Zitat ---
- Keine Frage, aber dass hier ein bisserl Ironie mitschwang, ist Dir ja sicherlich auch nicht entgangen, mein Gut'ster ... ;)
--- Zitat von: sYntiq am 20 Juli 2012, 12:41:52 ---Allerdings: Wenn man via Prüfung genau die Personen herausdestiliert hat, die neutral denken, persönliche Interessen zurückstellen, wählen was deutshclandweit das Beste ist, egal ob sie pers. evtl dadurch irgendwie zu "leiden" hätten, dann hätten wir im Grunde auch gleich die idealen Politiker, was die Wahl wieder überflüssig machen würde. ;)
--- Ende Zitat ---
- Cooler Vorschlag. Ist für den Staatshaushalt sicherlich auch kostengünstiger, als immer diesen Riesenaufwand mit Wahlen zu stemmen. Und in Zeiten der klammen Kassen ist so was doch mal 'ne Überlegung wert ... ;D
Und @ alle anderen:
Keine Frage: dass die Idee der Kopplung des Wahlrechts an eine Prüfung praktisch im Grunde genommen nicht durchführbar ist, weil sie an diversen Legitimations- und Umsetzungsproblemen scheitert, ist ziemlich klar und unbestritten. Sollte in erster Linie auch nur ein provokanter Vorschlag mit Augenzwinkern sein. 8)
Was allerdings die "politische Bildung" betrifft: Nein, mir ging es nicht um "politische Bildung" (denn das kann auch einfach ein hübscheres Wort für Indoktrination sein - und ist es oftmals auch), sondern tatsächlich um Bildung im Sinne der Befähigung, halbwegs komplexe Sachverhalte auf Basis eines gewissen Faktenwissens einigermaßen überblicken und auf Grundlage der gesammelten Eindrücke angemessen bewerten zu können. Nicht mehr und nicht weniger. Eine gewisse Reife sollte gegeben sein.
Wenn ich mir überlege, wie ich selbst mit 16 unterwegs war, dann kann ich heute nur sagen: Mich als 16jährigen würde ich heute an keine Wahlurne mehr lassen - Gott bewahre! Schlicht & ergeifend, weil ich von Hormonschüben und wirren Vorstellungen gepeitscht eben gerade nicht über die nötige Reife und Abgeklärtheit verfügte, die ich heute für eine Wahlbeteiligung als unabdingbare Voraussetzung erachten würde.
Aber freilich: Man soll nicht immer von sich auf andere schließen ... :)
--- Zitat von: colourize am 20 Juli 2012, 12:50:36 ---Das Wahlrecht nur an Menschen zu vergeben, die eine wie auch immer geartete "Prüfung" bestanden haben, würde bedeuten den demokratischen Grundgedanken aufzugeben. Dieser besagt nämlich nicht, dass die Teilnahme an einer Wahl an Voraussetzungen gekoppelt ist, sondern vielmehr, dass alle Mitglieder eines Volkes ("Demos" heißt genau das) die Macht ausüben ("kratos" = Macht). Mal von der Frage, was denn da bitte geprüft werden sollte um die "Eignung zur Wahlteilnahme" festzustellen, mal völlig abgesehen... - bis drei zu zählen ja vermutlich nicht.
--- Ende Zitat ---
- Ich verfüge leider gerade nicht über die gebührende Muße, aber das mit dem "demokratischen Grundgedanken", das müssen wir noch mal vertiefen. Das seh' ich nämlich ein bisschen anders, aber da schreib' ich in den nächsten Tagen noch mal was dazu, jetzt ist es aus Zeitgründen leider nicht möglich. :)
--- Zitat von: colourize am 20 Juli 2012, 12:50:36 ---Erstens gerät unser System derzeit dadurch in Gefahr, dass die Macht da facto nicht vom Parlament ausgeht, sondern von unserem Wirtschaftsystem, Rating Agenturen und dem Bankenwesen. Diese geben die notwendigen politischen Entscheidungen vor, die dann - als "alternativlos" dargestellt - im Parlament legitimiert werden. Eine Opposition, die eine Handlungsalternative vorschlägt, gibt es doch de facto nicht - siehe die Abstimmung zu den Krediten für spanische Banken gestern im Bundestag. Wenn es aber keine Alternativen gibt, dann sind auch Wahlen ziemlich sinnlos.
Zweitens gerät das demokratische System durch die Beschleunigung sämtlicher Entscheidungen in Gefahr. Wenn andauernd heute über etwas entschieden werden muss, was gerade mal gestern passiert ist ("Keine Kredite mehr für Spanien!", "Fukushima!" etc.), dann bleibt keine Zeit zum Nachdenken mit kühlem Kopf und kluge Beratungen. Ein Panik-Parlament winkt blind Gesetze durch - welche Typen ins Parlament gewählt wurden erscheint da eher als Nebensache.
Drittens führen uns die jüngeren Fälle ACTA, der Mappus-Notheis-Deal sowie die jüngste Novelle des Meldegesetzes eindrucksvoll vor Augen, dass unsere Parlamentarier sich von PR-Maschen genauso blenden lassen wie das angeblich so dumme Wahlvolk. Egal ob ACTA-Befürworter, Datenhandel-Fürsprecher oder Mappus: allesamt entpuppen sich als lobbyistengelenkte Marinetten, die genau die Sprüche aufsagen, die ihnen die PR-Berater der entsprechenden Interessensgruppen zuvor gesteckt haben. Leider scheint parlamentarische Kontrolle nicht stattzufinden - und wo sie droht (BaWü) werden von den höchsten Vertretern unserer Demokratie (MP Mappus) bewusst und in hinterhältiger Absicht Schleichwege begangen um die parlamentarische Demokratie auszuhebeln. Wer mag sich angesichts dessen noch über "Politikverdrossenheit" und wachsende Nichtwählerzahlen wundern?
Ich bin mir jedenfalls ganz sicher: Diese drei Punkte sind eine viel, viel stärkere Gefahr für die Zukunft unseres politischen Systems als die Frage danach, wer wählen darf und wer nicht.
--- Ende Zitat ---
- In diesen drei Punkten stehe ich wie ein Mann hinter Dir. ;)
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