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ALG II: Menschenwürde und Gerechtigkeit
CubistVowel:
Ist der Umgang der Politiker, der Ämter und der Medien mit den "Hartz IV"-Empfängern eigentlich noch mit der Menschenwürde und den Menschenrechten vereinbar, die doch jedem Menschen ohne Rücksicht auf soziale Herkunft etc. zustehen?
ALG II-Empfänger werden in der Öffentlichkeit direkt und indirekt dargestellt als schwarzarbeitende Sozialschmarotzer, die gerne und mit voller Absicht arbeitslos sind, die ihre Kinder, die sie nur wegen des Kindergeldes produzieren, vernachlässigen, um sich lieber Alkohol und Zigaretten zu kaufen, die unmäßig und verantwortungslos Mietnebenkosten verursachen, den ganzen Tag dumm, fett und faul vor dem Fernseher hocken und auf Staatskosten in Saus und Braus (in sogen. "spätrömischer Dekadenz") leben. Sie gelten als verachtenswerte, lebensunfähige Loser, die quasi ganz allein die Schuld am desolaten Staatshaushalt tragen.
Es gibt Vorschläge, ihnen die Heizkosten zu streichen, sie in 25-qm-Wohnungen zu sperren, sie mit Gutscheinen zu entmündigen, ihnen das Sorgerecht zu entziehen, sie zu Kochkurse zu zwingen (!), wenn ihre Kinder zu dick sind. Es wird darüber gestritten, ob einem Arbeitslosen ein neuer PC gehören darf oder ob sein Kind von 2,50 Euro am Tag satt werden kann, und ob diesem Kind Sportverein und Musikunterricht überhaupt zustehen, da es ja sowieso als bildungsfern gilt. Oder ob ein Sozialhilfeempfänger auch mal mit Freunden ausgehen darf. Oder wieviel Zähne er im Mund haben muss und ob er bei Krankheit wirklich jedes Medikament braucht.
Man drängt die Arbeitslosen zu unterbezahlter Billiglohnarbeit (die Arbeitgeber freut's) oder verpflichtet sie gleich zu "Bürgerarbeit" oder 1-Euro-Jobs, die wiederum neue Arbeitslose schaffen, und gängelt sie mit falsch berechneten Bescheiden, unberechtigten Forderungen, Drohungen und Repressionen, die in ganz erheblichem Umfang von den Sozialgerichte wieder aufgehoben werden. Man steckt sie in meistens nutzlose Um-, Fort- oder Weiterbildungsmaßnahmen - oft gegen ihren Willen und wegen der Statistik. Man setzt sie der Willkür teils nur angelernter Sachbearbeiter aus und durchschnüffelt ihr Privatleben, ob man ihnen nicht doch irgendwie eine Bedarfsgemeinschaft anhängen könnte. Man drängt Jugendliche in Arbeit oder Lehre, auch wenn sie lieber eine weiterführende Schule besuchen möchten. ...
Ich finde, so sollte man nicht mit Menschen umgehen. Dadurch nimmt man denen, die oftmals sowieso schon nichts mehr haben, auch noch einen Teil der Würde und Selbstbestimmung. Und der Motivation. Vielleicht bin ich einfach zu empfindlich. Aber mir stellt sich immer mehr die Frage, wie kalt es in Deutschland noch werden kann. Und warum wieder mal ausgerechnet die Schwächsten als Sündenböcke für eine seit Jahren verfehlte Sozialpolitik herhalten müssen. Vielleicht ist es die Angst vor dem eigenen Abstieg, die Menschen dazu verleitet, den Arbeitslosen jeden einzelnen Cent zu missgönnen... Oder der Neid auf vermeintlich unverdiente Leistungen vom Staat.
tyrannus:
--- Zitat von: CubistVowel am 03 August 2010, 15:12:04 ---Ist der Umgang der Politiker, der Ämter und der Medien mit den "Hartz IV"-Empfängern eigentlich noch mit der Menschenwürde und den Menschenrechten vereinbar, die doch jedem Menschen ohne Rücksicht auf soziale Herkunft etc. zustehen?
ALG II-Empfänger werden in der Öffentlichkeit direkt und indirekt dargestellt als schwarzarbeitende Sozialschmarotzer, die gerne und mit voller Absicht arbeitslos sind, die ihre Kinder, die sie nur wegen des Kindergeldes produzieren, vernachlässigen, um sich lieber Alkohol und Zigaretten zu kaufen, die unmäßig und verantwortungslos Mietnebenkosten verursachen, den ganzen Tag dumm, fett und faul vor dem Fernseher hocken und auf Staatskosten in Saus und Braus (in sogen. "spätrömischer Dekadenz") leben. Sie gelten als verachtenswerte, lebensunfähige Loser, die quasi ganz allein die Schuld am desolaten Staatshaushalt tragen. [...]
--- Ende Zitat ---
Wenn man sich die tägliche Ration Demagogen-TV mit Maybrit, Johannes und Klöppel spart, dann ist die Welt in Deutschland gar nicht so schlimm. Das sind alles Ablenkungsmanöver, um andere Dinge, die sich im Lande bewegen, zu verheimlichen und das Volk gegeneinander auszuspielen. ;)
EDIT: ,,
messie:
Ich sehe da Theorie und Praxis: Manch Politiker verlangt Dinge, die nur aufgrund irgendwelcher theoretischen Annahmen gemacht wurden, ohne die Praxis wirklich zu kennen. Vielmehr aber werden Aussagen auch einfach nur gemacht, um sich bekannter zu machen und ins Gespräch zu bringen, durchaus wohl wissend, dass der Vorschlag eh wieder in der Versenkung verschwinden wird, weil völlig unrealistisch und von den Gerichten eh wieder einkassierbar.
--- Zitat ---Es gibt Vorschläge, ihnen die Heizkosten zu streichen, sie in 25-qm-Wohnungen zu sperren, sie mit Gutscheinen zu entmündigen, ihnen das Sorgerecht zu entziehen, sie zu Kochkurse zu zwingen (!), wenn ihre Kinder zu dick sind. Es wird darüber gestritten, ob einem Arbeitslosen ein neuer PC gehören darf oder ob sein Kind von 2,50 Euro am Tag satt werden kann, und ob diesem Kind Sportverein und Musikunterricht überhaupt zustehen, da es ja sowieso als bildungsfern gilt. Oder ob ein Sozialhilfeempfänger auch mal mit Freunden ausgehen darf. Oder wieviel Zähne er im Mund haben muss und ob er bei Krankheit wirklich jedes Medikament braucht.
--- Ende Zitat ---
All diese Vorschläge wurden von wem gemacht? - Ja, genau: Irgendwelchen Politikern, die weniger Entscheidungsträger sind, sondern gerne mal Säbelrasseln betreiben. Ob sie das wirklich denken? Gute Frage, nächste Frage. Denn ob es ihnen primär nur darum geht, sich ins Gespräch zu bringen, weiß man nicht.
Dasselbe gilt dann auch für jene, die eine Reichensteuer fordern, weil die Reichen ja Sozialschmarotzer wären, oder einen Aufschlag der Mehrwertsteuer für Luxusgüter, etc. - auch das ist höchst demagogisch, und auch da weiß man nicht, was davon ernst gemeint ist oder nicht.
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Auf Kommunalebene und vor allem auf der Verwaltungsebene sieht es -glücklicherweise- anders aus.
Da zeigt sich dann z.B. gegenüber der Krankenkasse, dass die das ziemlich entspannt sieht: O-Ton "wir wissen ja, dass ein schlechtes Gebiss die Berufschancen schmälert, also haben wir ein Interesse daran, dass es gerade bei HartzIV-Empfängern in Ordnung ist" (habe ich in irgend einem Magazin mal gesehen, fragt bloß nicht wo, hab's vergessen ....).
Deutschlandweit gibt es Sozialstellen, die kostenlos PCs an Bedürftige abgeben, teils durchaus auch vom Staat gefördert.
Es gibt in der Tat zahlreiche Vereinbarungen der Ämter mit Mieterschutzbund, Sportvereinen, Musikschulen, etc ..., in dem Wissen, dass all dies dazu führt, dass ALGII-Empfänger neben der finanziellen Armut nicht auch noch sozial ausbluten. Auch hier in dem Wissen, dass sozial Entwöhnte länger bis ewig arbeitslos bleiben, weil die Integration in einen Job, wo Sozialkompetenz gefragt ist, irgendwann nicht mehr möglich ist.
Wer sich von Menschen entwöhnt hat, wird irgendwann beinahe automatisch zu dem Sesselpuper, von dem alle reden, es wäre eine selbsterfüllende Prophezeiung.
Es ist also nicht so, dass Ämter oder auch Mitbürger sofort an lebensunfähige Loser denken, wenn ihnen ein HartzIV-Empfänger begegnet. Vor allem im Zug der Finanzkrise, als Menschen arbeitslos wurden, für die die Arbeitslosigkeit das Schlimmste aller Übel ist, als Menschen arbeitslos blieben die sogar hochqualifiziert sind, erfolgte dort auf der gesellschaftlichen Ebene ein Umdenken.
Aber, wie überall, gibt es dann jene, die auf Stammtischniveau der Zeitung mit den großen vier Buchstaben denken.
Tja, und da gibt es dummerweise Politiker, die Sprüche, die dazu passen, raushauen. Denn diese sind es, die sie in die Schlagzeilen bringen.
Siehe oben: Es wird nicht von oben runtergeguckt, es wird einfach nur ein Thema gesucht, das schön politisch unkorrekt und markig ist, um seinen eigenen Bekanntheitsgrad zu steigern.
Was davon schlimmer ist? - Ich weiß es nicht.
Subjektiv gesehen kommt's aufs Gleiche raus: Dass mit jedem bekloppten Vorschlag das Image gegenüber einfach zu beeinflussenden Menschen weiter verschlechtert wird.
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Das Problem kennen andere Berufsgruppen aber auch:
*Studenten etwa sind ja auch nur alles faulenzende Langschläfer, die sich auf Staatskosten einen faulen Lenz machen (natürlich gibt es die, ich schätze diese Gruppe aber auf weit unter 10%),
* Beamte arbeiten ja eh alle langsam und sind total unmotiviert, weil ihre Kohle sicher ist (dass heute kaum jemand mehr verbeamtet wird und überdies mir noch kein Beamter begegnet ist, der nicht in Arbeit umkommt, obwohl er Vollgas gibt, wird gerne übersehen),
* Anwälte sind ja eh alles Rechtsverdreher, die zu viel Geld verdienen, weil sie es ja nehmen können (auch hier kenne ich nicht einen Anwalt, der unter einer 60-Stunden-Woche, alles inklusive, wegkommt. Aber nine-to-five-Arbeitende regen sich drüber auf ...),
* Azubis sind ja alles faule Säcke, die man heutzutage ja gar nicht einstellen oder übernehmen könne (dass jede Menge Qualifizierte nicht übernommen werden, weil die Arbeitgeber lieber 1-Euro-Jobber nehmen, ist ja günstiger, wird auch gerne mal übersehen ...),
und so weiter, und so weiter.
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Zu HartzIV & Co. noch einmal:
Das meines Erachtens größte Problem in der Ecke sind die sogenannten Aufstocker.
Ich kann und will nicht verstehen, dass es hierzulande Jobs gibt, bei denen Menschen 40 Stunden die Woche arbeiten und nicht einmal das absolute Existenzminium erhalten, das ein Arbeitsloser erhält, sondern der Staat ihnen Geld zuschießen muss, damit er den HartzIV-Satz hat! DAS ist der eigentliche Skandal!
Westerwelles "Arbeit muss sich lohnen" stimmt.
Aber dann muss man die Arbeit finanziell absichern über gesetzliche Mindestlöhne, um Ausbeutung zu verhindern, und nicht etwa die HartzIV-Gegebenheiten unattraktiver.
Die sind eh schon am unteren Ende. Spielraum nach unten (auch wenn das manch Politiker gerne behauptet) gibt es hier eh keinen mehr.
Philomel:
Dazu passt doch diese wunderbare, neue Studie (http://www.freie-publizistin.de/studie.pdf) laut der ein junger Mann hierzulande problemlos von 160€ im Monat leben kann. Wenn ich mir deren Berechnungen ansehe, wird mir schwindelig.
Es wurde schon mehrfach kritisiert, das besonders die Berechnungen für Lebensmittelkosten auf Preisen für große Mengen basieren und allein dadurch schon für den Normalverbraucher unrealistisch sind. Es sind nun aber diese Berechnungen, auf die sich populistische Journalisten und Politiker stürzen.
Alle Leute, die sich über die "spätrömische Dekadenz" der Hartz IV-Empfänger aufregen, dürfen gern mal ein-zwei Monate mit diesen angeblich so hohen Sätzen leben. Darüber sollten sie mal eine Doku drehen.
Der fette, faule, ketterauchende Sozialschmarotzer, der den Tag saufend vor der Glotze verbringt und keinerlei Interesse an Arbeit hat, ist natürlich ein grandioses Feindbild, das massen- und medienwirksam ausgeschlachtet werden kann. Dadurch kann die Politik auch super begründen, dass die Staatsschulden durch Minderung der Leistungen für diese unnützen Mitbürger gesenkt werden können. Ich finde ja immer noch, dass Politiker erstmal ihre Diäten wieder senken dürfen, und wenn sie schon dabei sind, ihre Rentenbezüge gleich mit. Damit würde auch einiges an Geld wieder in die Kassen kommen.
Was diese Gutscheinidee angeht: so schlecht finde ich das nicht. Bei den Kita-Gutscheinen klappt das schließlich auch und Berschwerden hab ich da bis jetzt keine gehört. Familien, die das Geld eh für diese Dinge ausgegeben haben, kümmert es meist wenig, in welcher Form das ins Haus kommt.
Ich muss Messie zustimmen: mit das größte Problem ist es, dass viele Menschen trotz Vollzeitjobs unter dem Existenzminimum leben und mit Sozialgeld/ALG II aufstocken müssen. Warum sich die Regierung weiterhin gegen gesetzlich festgelegte Mindestlöhne sträubt, ist mir ein Rätsel.
Strigoi_69:
Ja, die aaaarmen Hartz IV Empfänger.....
Sollen sie doch auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung auch noch ein Menü im Restaurant gesponsort bekommen- ein bisschen Sozialleben muss doch sein. Der Geringverdiener, aber auch der Durchschnittsverdiener, der sich trotz dieser Tatsache selbständig auch seine Grundansprüche wie Bett, Kleiderschrank, Klamotten, Strom finanzieren muss hat eben Pech- was arbeitet er auch für die paar Kröten. Wenn ich das schon wieder lese- sehr, sehr viele Menschen in Deutschland arbeiten und können sich dennoch nur das Nötigste leisten. Aber diese haben ja nur sehr geringe Ansprüche- im Gegensatz zum gemeinen Hartz IV Empfänger. Es gibt sicher auch Menschen, die aufgrund von Alter oder Krankheit keinen Job mehr finden- zum Glück können wir es uns noch leisten dort zu helfen. Aber es sind auch junge, gesunde Leute darunter- diese zeigen der gemeinen arbeitenden Spezies grinsend den gepflegten Stinkefinger. Ich bin nicht für die Abschaffung des Sozialstaates, aber für gemeinnützige Arbeit der Leute, die fit und gesund sind. Schließlich leben sie vom Geld der Allgemeinheit, da erwarte ich eine Gegenleistung. Ich finde die strengeren Regeln gut- man bedenke, in anderen Ländern bekommt man NIX. Wenn unser Schuldenberg noch weiter wächst- und das tut er- können wir uns soviel soziales Gutmenschentum sowieso nicht mehr leisten. Natürlich nicht von heut auf morgen, damit der Deutsche sich langsaaaaaaam daran gewöhnt. Demonstrieren tut der doch sowieso nicht ;). Ich finde, kostenloses Wohnen, Essen u.s.w. sollte man nicht mehr für selbstverständlich halten- dies ist es einfach nicht! Sicherlich ist der Satz knapp bemessen- aber auch der Geringverdiener muss sich sein Geld einteilen. Es gibt auch genügend Leute, die kein Hartz IV zusätzlich erhalten und dennoch auf eine Waschmaschine, Restaurant etc. sparen müssen. Deutschland ist immer noch ein Luxusland, welches auch die Faullenzer und Tagträumer ernährt- diese gibt es auch zuhauf. Ich bin im Kundenkontakt und bekomme sehr viel mit, das Anspruchsdenken so mancher HartzIV Empfänger ist sehr hoch. "Bekomme ich einen Rabatt- ich bin Hartz IV!!"
Wenn ich schon im Videotext lese: "Mit diesen Tricks 50% mehr Arbeitslosen/ Wohngeld!" Das Ausbeuten/ Austricken des Staates- Oh, das sind ja wir alle- ist noch immer schick. Und ja, es gibt auch sehr viele Schwarzarbeiter- diese verdienen insgesamt besser als so manche Vollzeitkraft.
Sicherlich, das "Amt für Arbeit" hat diesen Titel nicht verdient und ist mir ebenfalls ein Dorn im Auge. Ebenso wie die zum Teil unsinnigen "Fortbildungsmaßnahmen" ohne Aussicht auf einen Job.
Ja, Arbeit muss sich lohnen- aber an eine Änderung glaube ich nicht.
Ich wünsche mir einfach mehr Kontrollen und härtere Strafen- damit nicht die wirklich Bedürftigen darunter leiden. Außerdem sollten Empfangende auch- notfalls durch Sprachkurse- fähig sein, überhaupt in diesem Land eine Arbeit finden zu können.
Tut mir leid, dieses Thema ist ein sehr, sehr rotes Tuch für mich und ich bin heut eh geladen.
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