Schwarzes Hamburg

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Autor Thema: Geschichten, die das Leben schrieb  (Gelesen 3480 mal)

RaoulDuke

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Geschichten, die das Leben schrieb
« am: 09 April 2015, 22:39:35 »

Ich weiss nun, warum alte Männer in Schaukelstühlen so in sich hinein lächeln, während sie an ihrer Pfeife ziehen und auf und ab wippen.

Woher ich das weiß? Wir werden noch dazu kommen.

Es war vor etwa vier Jahren, ich saß in einer vollen U-Bahn auf diesen kalten kunststoffbezogenen Sitzen, die aus irgendeinem Grund immer den Eindruck erwecken, sie würden kleben, es dann aber letztendlich doch nicht tun. Wir hatten Abend, ich war auf dem Rückweg nach des Tages Werk, und aus meinen Kopfhörern drang schwere Musik, die mich in einen geistigen Zustand versetzte, der die Dinge um mich herum unwirklich erscheinen ließ. Ich schloß kurz die Augen, atmete tief ein und als ich sie wieder öffnete, saß sie mir gegenüber.

Sie war vielleicht gerade zwanzig, ein hellbrauner Lockenkopf umgab ihr süßes Gesicht wie eine Löwenmähne. Ich weiß nicht mehr, welche Kleidung sie trug, nur dass es wirkte, als hätte jemand plötzlich einen Zeitlupenknopf gedrückt. Mit ihren Fingern spielte sie mit einem bunten Faden, und aus ihr heraus leuchtete eine so lebendige und ehrliche Freude, dass ich sie förmlich auf meiner Haut spüren konnte.

Es gibt Momente im Leben, da verlässt einen das bewußte Handeln und ein Autopilot übernimmt das Ruder. Ich konnte mich jedenfalls wie ein Zuschauer geradezu dabei beobachten, wie ich die Kopförer aus meinen Ohren nahm, und mitten in der vollbesetzten Bahn ein Gespräch mit dem Mädchen gegenüber begann. Ich muss etwas unverfängliches gesagt haben, aber in so einer Situation wird das was mit dem wie transportiert. Wir fuhren zusammen zwei Stationen in der Bahn, und als sie aufstand, fragte sie mich, ob ich mit aussteigen würde. Dass sie das tun würde, war mir eigentlich schon seit der Sekunde klar, bevor ich sie anprach.

Da standen wir nun, auf dem Bahnsteig bei der Haltestelle Lattenkamp - und ein Satz lief gleich einem Untertitel vor meinem inneren Auge vorbei - "beim Flirten ist es wie beim Tanzen, es ist ein vor und zurück, ein Spiel mit der Distanz". Entweder sie dachte das Gleiche, oder es gab wirklich irgendeine Klausur in ein oder zwei Tagen, das weiss ich nicht. Sie sagte jedenfalls - "wir treffen uns am Donnerstag im Café Mai, um 19 Uhr OK?" Ich entgegnete, dass wir Nummern tauschen könnten. Ihre Antwort kam mit einem Lächeln: "Ist es nicht ohne irgendwie viel romantischer?" ... und so verschwand sie in der hereinbrechenden Dunkelheit des Abends.

Ja, die Männer mit den Schaukelstühlen. Vielleicht denken sie viel an solche Geschichten, aber sollen sie nur, denn meine beginnt eigentlich erst jetzt.

An besagtem Donnerstag vor dem Café Mai wartete ich eine Stunde, niemand kam.

Doch, plötzlich, gerade als ich aufgeben wollte, erschien der Lockenkopf, wieder umgeben von einer Aura der Freude, aber gleichzeitig des Kryptischen. Keine Erklärung, nichts. Wir gingen in das Café, bestellten etwas, sie einen extragroßen Latte Macchiato, trotz der fortgeschrittenen Stunde. Und schwieg. Ich lächelte und bemühte einen sanften Einstieg ins Gespräch. Aber nicht mit ihr. Sie schlug stattdessen etwas vor, was ich erst nicht verstand, aber ... Nun ich bin versucht, vorzugreifen.

Sie sagte: "Wir erzählen uns jetzt jeweils etwas übereinander. Vielleicht 10 oder 15 Minuten, aber ohne Unterbrechungen, ohne miteinander zu reden verstehst Du? Es ist aber etwas besonderes dabei: Die Hälfte der Geschichte soll stimmen, und die andere Hälfte soll ausgedacht sein, und wir verraten uns nicht, was stimmt, OK?" ... und lächelte dabei wieder, wie es reiner Zucker nicht übertreffen kann.

Sie erzählte mir viel über ihr Leben, ihr Studium, ich glaube es war Germanistik oder Philosophie, das ihr aber nicht gefalle, und sie wolle nun mit jemandem, den sie vor kurzem kennegelernt habe, ein Jahr lang um die Welt segeln. Und wenn sie wieder in Hamburg sei, dann hoffe sie, jemanden zu treffen, der ihren Hang zum Aussergewöhnlichen teile, und man wisse nie, wann dieser jemand in ihr Leben kommen würde.

Ich erzählte Ihr auch irgendwas, es kamen wohl Hochhäuser aus Glas und Chrom darin vor, aber viel stärker ist mir in Erinnerung geblieben, dass sie, nachdem wir unsere Geschichten erzählt hatten, fröhlich lachte und sagte "Das hier wird bleiben. Wir werden es nicht vergessen, vielleicht nie." Dann lächelte sie noch einmal mit all ihrer Süße, stand auf und war in der Nacht verschwunden.

Segelt sie auf dem Meer? Fristet sie an der Uni ein gelangweiltes Dasein? Das weiß ich nicht, aber ich weiß, daß das lächelnde Mädchen, vom dem ich nicht einmal den Namen erfahren habe, Recht behalten sollte. Es blieb.

Munition für den Schaukelstuhl, nehme ich einmal an. Ich werde diese Geschichte sorgfältig zu den anderen legen.

Nachtrag: Die Geschichte blieb, nicht das Mädchen. Ich habe sie niemals wieder gesehen.
« Letzte Änderung: 09 April 2015, 22:44:46 von RaoulDuke »
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sYntiq

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Antw:Geschichten, die das Leben schrieb
« Antwort #1 am: 10 April 2015, 09:53:13 »

Auch eine Art jemanden abzuservieren.  ;)
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Black Ronin

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Antw:Geschichten, die das Leben schrieb
« Antwort #2 am: 10 April 2015, 11:39:35 »

Auch eine Art jemanden abzuservieren.  ;)
Ich wollt´s nicht..... :-X
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Antw:Geschichten, die das Leben schrieb
« Antwort #3 am: 10 April 2015, 22:36:50 »

Szenen und Dialoge wie aus einem französischen Film. In jedem Fall Wert im Gedächnis bewahrt und hervorgeholt zu werden - auch wenn man noch nicht im Schaukelstuhl sitzt.
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Black Ronin

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Antw:Geschichten, die das Leben schrieb
« Antwort #4 am: 11 April 2015, 09:38:28 »

Szenen und Dialoge wie aus einem französischen Film. In jedem Fall Wert im Gedächnis bewahrt und hervorgeholt zu werden - auch wenn man noch nicht im Schaukelstuhl sitzt.
Französisch find ich gut!
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RaoulDuke

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Antw:Geschichten, die das Leben schrieb
« Antwort #5 am: 05 Mai 2015, 21:48:03 »

Nachtfahrt

Von grellen Scheinwerfer beleuchtet fliegt die Kurve auf mich zu. Kupplung ziehen, Click-Clack, dritter Gang, die Drehzahl liegt bei 6.000, ich lege mich tief hinein und sehe den Mittelstreifen unter mir entlang ziehen. Kurvenausgang, der Motor faucht. 7000. 8000. Ein knurrendes Brummen zieht mich nach vorn, hinein in die stockfinstere Nacht.

Es kommt mir vor, als sei ich schon seit Stunden unterwegs, auf dieser Strecke, in der ich jeden Winkel kenne, jede Gerade, jede Kurve, jedes auf und ab. Ich war schon sehr oft hier, es sind wohl Jahrzehnte. Und immer wenn ich hier bin, dann merke ich, dass es auch eine Strecke der Geschichten für mich ist, untrennbar mit mir verbunden und ein Teil von mir geworden. Vor mehr als einem Jahrzehnt bin ich hier auch gefahren, in einem dunkelroten Volvo, auch in einer stockfinsteren Mittwochnacht, genau wie heute. Ich war vorher in einem der leeren Clubs, die in der Woche nur von Leuten angesteuert werden, die hungrig sind nach irgendwas, manchmal wissen sie selbst nicht ganz genau, was. Es passieren die verrücktesten Dinge an solchen Mittwochabenden.

Eine langezogene Rechtskurve. Damals im Club stand ich vor einem Plakat von irgendeinem Konzert, als plötzlich ein Mädchen neben mir stand und fragte "Kaufst Du mir einen Drink?" Ich fand das so atemberaubend dreist, dass ich konterte "Klar, aber nicht hier. Wie wäre es mit einem anderen Club?" Ich schlug eine Disco bestimmt 50 Kilometer entfernt vor. Das Mädchen grinste und meinte "klar!" - in dem Moment gesellte sich eine Freundin von ihr dazu. Beide wirkten sehr jung, und ich kannte noch nicht einmal ihre Namen, als der dunkelrote Volvo vom Club zu seiner Reise über die nächtliche Landstraße aufbrach. Wir unterhielten uns, und es war total entspannt, als ich es mir nicht verkneifen konnte, ein finsteres Lächeln aufzusetzen und plötzlich wie beiläufig zu sagen "Wisst Ihr, dass es eigentlich total leichtsinnig ist, zu jemandem, den ihr noch nie gesehen habt, ins Auto zu steigen und durch's Nirgendwo zu fahren?" Die Freundin der Unbekannten wurde leichenblass, atmete plötzlich heftig und tief ein und schluckte. Die Unbekannte hingegen sah mich vom Beifahrersitz aus an - und lachte dreckig. In der Sekunde wusste ich, dass wir Freunde werden würden. Das taten wir auch, und mein Leben wäre ohne die beiden an entscheidenden Stellen anders verlaufen. Ich lache unter dem Helm auch leise dreckig.

Plötzlich eine Rechts-Links-Kombination. Bremse, Kupplung, Click-Clack, ich spüre, dass die schwere Maschine der abrupten Richtungsänderung nur widerwillig folgt. Ich zwinge ihr meinen Willen auf. Kupplung, Click-Clack. Es ist wie das Laden einer Waffe. Ich weiss es noch wie gestern - der Schlitten der schweren Pistole gleitet nach hinten. Click-Clack. Ich lasse ihn los. Die Waffe liegt schwer und kalt in meiner Hand. Als ich sie hebe, höre ich die Stimme von meinem Großvater sagen "Halt! Du darfst den Finger erst an den Abzug legen, wenn Du wirklich schießen willst!" Aber das war schon Jahre, bevor ich die Waffe hob. Ich richtete sie auf eine große, rostige Metalltonne. Legte den Finger an den Abzug. Und drückte ab. Es knallte enorm laut, ich erschrak mich über den Rückstoß, aber es war nichts passiert. Halt moment, doch. Durch ein kleines Loch in der Tonne schien Licht. Ob die Tonne noch da ist, nach all den Jahren?

Ich kann es nicht sehen, denn mich umgibt rabenschwarze Nacht, nur der helle Scheinwerfer meines Motorrades beleuchtet die endlose Straße, die unter mir dahinrast. Ich gebe Gas, und mit einem Grollen, das ansetzt, ein wütendes Brüllen zu werden, reisst mich die Maschine hinein, immer tiefer hinein in die Nacht und ihre Geschichten. Ich wünschte mir, ich könnte mit ihr verschmelzen.
« Letzte Änderung: 05 Mai 2015, 22:13:33 von RaoulDuke »
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Black Ronin

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Antw:Geschichten, die das Leben schrieb
« Antwort #6 am: 06 Mai 2015, 09:54:41 »

Ö.Ö
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