Wer sich über die Härte und Rücksichtslosigkeit in der heutigen öffentlichen Diskussion ärgert, der kann ja mal den folgenden Text lesen, der die Titelgeschichte des Spiegels Nr 38/1966 war und sich mit dem Thema "Gammler in Deutschland" beschäftigt. Dabei handelte es sich, im Unterschied zum heutigen Begriffsverständnis, nicht um Obdachlose und Landstreicher, sondern um eine "Szene" der Jugendkultur (wie man heute sagen würde), die sich das Nichtstun und den Müßiggang auf die Fahnen geschrieben hatte. Wie ich vor kurzem lernte, kann man das wohl als einen "herzhaften Händel" bezeichnen - dagegen sieht die Dauerempörung vieler heutiger Berufsbedenkenträger ziemlich harmlos aus.
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Gammler in Deutschland--- aus dem Artikel: ---
Es sind in Deutschland nur 800 oder tausend an der Zahl; 5000 etwa in Europa. Und doch macht die Gesellschaft um sie ein Aufhebens, als wären es Millionen - oder Millionäre.
"Solange ich regiere, werde ich alles tun, um dieses Unwesen zu zerstören"; also sprach Ludwig Erhard, Kanzler eines Staatswesens, in dem nur jeder zweite Bürger sich die Zähne putzt. Und die "Süddeutsche Zeitung" spottete: "Ihm nach, wer kein Schmutzfink ist!"
Springer-Kolumnist William S. Schlamm erkannte in den Gammlern das "häßlichste 20. Jahrhundert". Der Münchner Lokalfeuilletonist Sigi Sommer ("Blasius der Spaziergänger") identifizierte sie als "ausgewachsene Saubären" und "schlummernden Müll".
Die CSU-Fraktion im Münchner Rathaus beantragte, das "Gammlertum ... auf das diesem zukommende Maß zu reduzieren". Die NPD forderte in ihrem Parteiblatt "endlich Maßnahmen ... um das ganze Problem ... radikal und im Sinne des gesunden Volksempfindens zu lösen".
Jenseits der Mauer nahm das gesunde Volksempfinden schon handgreifliche Formen an. Das SED-Blatt "Neues Deutschland" verlangte, den DDR -Gammlern "einen sauberen Messerformschnitt" zu verpassen. Die "Junge Welt" der DDR-Jugend meldete Vollzug: Dem Lehrling Detlev aus dem VEB Omnibus- und Lastkraftwagen-Reparaturwerk erteilten Kollegen "eine Lektion". Sie kappten dem "Leitgammler von Weißensee" die Mähne mit Gewalt.
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"Unter Hitler", sprach ein Berliner angesichts des lungernden Jungvolks an der Gedächtniskirche, "hätte es so etwas nicht gegeben."
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So etwas kann Altfranke Ludwig Erhard nicht fassen. Ihm ist unbegreiflich, daß seine formierte Gesellschaft jemandem nicht behagt. Außerstande, offenkundige Probleme zu lösen, aber allzeit bereit, Probleme dort zu sehen, wo keine sind, beschloß er - nach seiner Attacke auf Pinscher und Uhus -, nun auch den Lümmeln von Gammlern den Kampf anzusagen.
Auf Kanzler-Befehl wurden die Innenministerien der Bundesländer ersucht, schleunigst mitzuteilen,
- in welchem Umfang die Gammler die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden,
- ob die Gammler identisch mit Landstreichern seien,
- ob Gammler schon randaliert und demoliert hätten und
- ob unter den Gammlern auch Ausländer festgestellt worden seien.
Die erste Antwort erhielt der weiche Riese Erhard, der - so die "Süddeutsche Zeitung" - "diese grauen Stellen aus unserem weißen Volkskörper hinauszwingen" will, von Studenten. [...]
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edit: Eingangsformulierung überarbeitet.