Schwarzes Hamburg

Schwarzes Hamburg => Archiv => Kunst & Kultur -Archiv- => Thema gestartet von: Kallisti am 21 November 2004, 09:14:35

Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Kallisti am 21 November 2004, 09:14:35
Der Panther

Rainer Maria Rilke


Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -  Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille
und hört im Herzen auf zu sein.




(... mein absolutes Lieblingsgedicht!)
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Kallisti am 21 November 2004, 09:24:56
Schlußstück

R.M. Rilke


Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.






Die große Ruhe

Paul Verlaine


Die große dunkle Ruh
Sinkt über meine Brust:
Schlaf ein, mein Hoffen du,
Und du auch, süße Lust.

Ich sehe nimmer klar
Und weiß schon lang nicht mehr,
Was gut, was böse war; -
O Dasein, trüb und leer.

Von sanfter Hand gewiegt
Ich eine Wiege bin,
Ins Dunkel eingeschmiegt;
O Schweigen, nimm mich hin!






An sich selbst

Giacomo Leopardi


Nun magst du ruhn für immer,
Mein müdes Herz. Es schwand die letzte Täuschung.
Die ewig ich gewähnt. Sie schwand. Ich fühle
Die Hoffnung jetzt erloschen,
Den Wunsch selbst nach des holden Truges Spiele.
Auf immer ruh! Du hast nun
Genug geschlagen. Würdig deines Pochens
Ist nichts, noch wert dies Dasein deiner Seufzer.
Das Leben nur ein Ekel
Und Bitterkeit, sonst nichts, und Kot und die Erde.
Nun ruhe aus.  Verzweifle
Zum letzten Mal. Das Schicksal gab den Menschen
Nichts weiter als zu sterben. Jetzt verachte
Dich, die Natur, die Macht, die finstern Webens
Auf unser aller Schaden stets nur dachte,

Und die endlose Nichtigkeit des Lebens.
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Kallisti am 21 November 2004, 09:32:41
Welle der Nacht

Gottfried Benn


Welle der Nacht - Meerwidder und Delphine
mit Hyacinthos leichtbewegter Last,
die Lorbeerrosen und die Travertine
weh´n um den leeren istrischen Palast,

Welle der Nacht - , zwei Muscheln miterkoren,
die Fluten strömen sie, die Felsen her,
dann Diadem und Purpur mitverloren,
die weiße Perle rollt zurück ins Meer.






Nur zwei Dinge

Gottfried Benn


Durch soviel Formen geschritten,
durch Ich und Wir und Du,
doch alles bleib erlitten
durch die ewige Frage: wozu ?

Das ist eine Kinderfrage.
Dir wurde erst spät bewußt,
es gibt nur eines: ertrage
- ob Sinn, ob Sucht, ob Sage -
dein fernbestimmtes: Du mußt.

Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Kallisti am 21 November 2004, 09:53:16
Verwelkende Rosen

Hermann Hesse


Möchten viele Seelen dies verstehen,
Möchten viele Liebende es lernen:
So im eigenen Dufte sich berauschen,
So verliebt dem Mörder Wind zu lauschen,
So in rosiges Blätterspiel verwehen,
Lächelnd sich vom Liebesmahl entfernen,
So den Abschied als ein Fest begehen,
So gelöst dem Leiblichen entsinken
Und wie einen Kuß den Tod zu trinken.





Kennst du das auch?

Hermann Hesse


Kennst du das auch, daß manchesmal
Inmitten einer lauten Lust,
Bei einem Fest, in einem frohen Saal,
Du plötzlich schweigen und hinweggehn mußt?

Dann legst du dich aufs Lager ohne Schlaf
Wie Einer, den ein plötzlich Herzweh traf;
Lust und Gelächter ist verstiebt wie Rauch,
Du weinst, weinst ohne Halt -  Kennst du das auch?





Gleichnisse

H. Hesse


Meine Liebe ist ein stilles Boot,
Das mit träumerischen Ruderschlägen
Einer dunklen Brandung treibt entgegen.

Meine Liebe ist ein jähes Licht,
Das durch schwarze, schwüle Nächte bricht
Und unselig wie ein Blitz verloht.

Meine Liebe ist ein krankes Kind,
Das bei Nacht in seinem Bette sinnt;
Und am Rand des Bettes steht der Tod.





Dunkelste Stunden

H. Hesse


Das sind die Stunden, die wir nicht begreifen!
Sie beugen uns in Todestiefen nieder
Und löschen aus, was wir von Trost gewußt,
Sie reißen uns geheimgehaltene Lieder
Mit blutend wunden Wurzeln aus der Brust.

Und doch sind das die Stunden, deren Last
Uns Stille lehrt und innerlichste Rast
Und die zu Weisen uns und Dichtern reifen.
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Eisbär am 21 November 2004, 16:25:21
Der Lotse
Ludwig Giesebrecht (1792-1873)

“Siehst du die Brigg dort auf den Wellen?
Sie steuert falsch, sie treibt herein
und muss am Vorgebirg zerschellen,
lenkt sie nicht augenblicklich ein.

Ich muss hinaus, dass ich sie leite!"
"Gehst du ins offne Wasser vor,
so legt dein Boot sich auf die Seite
und richtet nimmer sich empor."

"Allein ich sinke nicht vergebens,
wenn sie mein letzter Ruf belehrt:
Ein ganzes Schiff voll jungen Lebens
ist wohl ein altes Leben wert.

Gib mir das Sprachrohr. Schifflein, eile!
Es ist die letzte, höchste Not!" -
Vor fliegendem Sturme gleich dem Pfeile
hin durch die Schären eilt das Boot.

Jetzt schießt es aus dem Klippenrande!
"Links müsst ihr steuern!", hallt ein Schrei.
Kieloben treibt das Boot zu Lande,
und sicher fährt die Brigg vorbei.
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Eisbär am 21 November 2004, 16:31:10
Die Kraniche des Ibykus
Friedrich Schiller (1759-1805)

Zum Kampf der Wagen und Gesänge,
Der auf Korinthus' Landesenge
Der Griechen Stämme froh vereint,
Zog Ibykus, der Götterfreund.
Ihm schenkte des Gesanges Gabe,
Der Lieder süssen Mund Apoll,
So wandert er, an leichtem Stabe,
Aus Rhegium, des Gottes voll.

Schon winkt auf hohem Bergesrücken
Akrokorinth des Wandrers Blicken,
Und in Poseidons Fichtenhain
Tritt er mit frommem Schauder ein.
Nichts regt sich um ihn her, nur Schwärme
Von Kranichen begleiten ihn,
Die fernhin nach des Südens Wärme
In graulichtem Geschwader ziehn.

"Seid mir gegrüsst, befreundte Scharen!
Die mir zur See Begleiter waren,
Zum guten Zeichen nehm ich euch,
Mein Los, es ist dem euren gleich.
Von fern her kommen wir gezogen,
Und flehen um ein wirtlich Dach.
Sei uns der Gastliche gewogen,
Der von dem Fremdling wehrt die Schmach!"

Und munter fördert er die Schritte,
Und sieht sich in des Waldes Mitte,
Da sperren, auf gedrangem Steg,
Zwei Mörder plötzlich seinen Weg.
Zum Kampfe muss er sich bereiten,
Doch bald ermattet sinkt die Hand,
Sie hat der Leier zarte Saiten,
Doch nie des Bogens Kraft gespannt.

Er ruft die Menschen an, die Götter,
Sein Flehen dringt zu keinem Retter,
Wie weit er auch die Stimme schickt,
Nichts Lebendes wird hier erblickt,
"So muss ich hier verlassen sterben,
Auf fremdem Boden, unbeweint,
Durch böser Buben Hand verderben,
Wo auch kein Rächer mir erscheint!"

Und schwer getroffen sinkt er nieder,
Da rauscht der Kraniche Gefieder,
Er hört, schon kann er nicht mehr sehn,
Die nahen Stimmen furchtbar krähn.
"Von euch ihr Kraniche dort oben,
Wenn keine andre Stimme spricht,
Sei meines Mordes Klag erhoben!"
Er ruft es, und sein Auge bricht.

Der nackte Leichnam wird gefunden,
Und bald, obgleich entstellt von Wunden,
Erkennt der Gastfreund in Korinth
Die Züge, die ihm teuer sind.
"Und muss ich so dich wiederfinden,
Und hoffte mit der Fichte Kranz
Des Sängers Schläfe zu umwinden,
Bestrahlt von seines Ruhmes Glanz!"

Und jammernd hörens alle Gäste,
Versammelt bei Poseidons Feste,
Ganz Griechenland ergreift der Schmerz,
Verloren hat ihn jedes Herz,
Und stürmend drängt sich zum Prytanen
Das Volk, es fodert seine Wut,
Zu rächen des Erschlagnen Manen,
Zu sühnen mit des Mörders Blut.

Doch wo die Spur, die aus der Menge,
Der Völker flutendem Gedränge,
Gelocket von der Spiele Pracht,
Den schwarzen Täter kenntlich macht?
Sinds Räuber, die ihn feig erschlagen?
Tats neidisch ein verborgner Feind?
Nur Helios vermags zu sagen,
Der alles Irdische bescheint.

Er geht vielleicht mit frechem Schritte
Jetzt eben durch der Griechen Mitte,
Und während ihn die Rache sucht,
Geniesst er seines Frevels Frucht.
Auf ihres eignen Tempels Schwelle
Trotzt er vielleicht den Göttern, mengt
Sich dreist in jene Menschenwelle,
Die dort sich zum Theater drängt.

Denn Bank an Bank gedränget sitzen,
Es brechen fast der Bühne Stützen,
Herbeigeströmt von fern und nah,
Der Griechen Völker wartend da,
Dumpfbrausend wie des Meeres Wogen,
Von Menschen wimmelnd, wächst der Bau
In weiter stets geschweiftem Bogen
Hinauf bis in des Himmels Blau.

Wer zählt die Völker, nennt die Namen,
Die gastlich hier zusammenkamen?
Von Kekrops' Stadt, von Aulis' Strand,
Von Phocis, vom Spartanerland,
Von Asiens entlegner Küste,
Von allen Inseln kamen sie,
Und horchen von dem Schaugerüste
Des Chores grauser Melodie,

Der streng und ernst, nach alter Sitte,
Mit langsam abgemessnem Schritte,
Hervortritt aus dem Hintergrund,
Umwandelnd des Theaters Rund.
So schreiten keine irdschen Weiber,
Die zeugete kein sterblich Haus!
Es steigt das Riesenmass der Leiber
Hoch über menschliches hinaus.

Ein schwarzer Mantel schlägt die Lenden,
Sie schwingen in entfleischten Händen
Der Fackel düsterrote Glut,
In ihren Wangen fliesst kein Blut.
Und wo die Haare lieblich flattern,
Um Menschenstirnen freundlich wehn,
Da sieht man Schlangen hier und Nattern
Die giftgeschwollnen Bäuche blähn.

Und schauerlich gedreht im Kreise,
Beginnen sie des Hymnus Weise,
Der durch das Herz zerreissend dringt,
Die Bande um den Frevler schlingt.
Besinnungraubend, herzbetörend
Schallt der Erinnyen Gesang,
Er schallt, des Hörers Mark verzehrend,
Und duldet nicht der Leier Klang:

"Wohl dem, der frei von Schuld und Fehle
Bewahrt die kindlich reine Seele!
Ihm dürfen wir nicht rächend nahn,
Er wandelt frei des Lebens Bahn.
Doch wehe, wehe, wer verstohlen
Des Mordes schwere Tat vollbracht,
Wir heften uns an seine Sohlen,
Das furchtbare Geschlecht der Nacht!

Und glaubt er fliehend zu entspringen,
Geflügelt sind wir da, die Schlingen
Ihm werfend um den flüchtgen Fuss,
Dass er zu Boden fallen muss.
So jagen wir ihn, ohn Ermatten,
Versöhnen kann uns keine Reu,
Ihn fort und fort bis zu den Schatten
Und geben ihn auch dort nicht frei."

So singend tanzen sie den Reigen,
Und Stille wie des Todes Schweigen
Liegt überm ganzen Hause schwer,
Als ob die Gottheit nahe wär.
Und feierlich, nach alter Sitte,
Umwandelnd des Theaters Rund,
Mit langsam abgemessnem Schritte,
Verschwinden sie im Hintergrund.

Und zwischen Trug und Wahrheit schwebet
Noch zweifelnd jede Brust und bebet,
Und huldiget der furchtbarn Macht,
Die richtend im Verborgnen wacht,
Die unerforschlich, unergründet,
Des Schicksals dunkeln Knäuel flicht,
Dem tiefen Herzen sich verkündet,
Doch fliehet vor dem Sonnenlicht.

Da hört man auf den höchsten Stufen
Auf einmal eine Stimme rufen:
"Sieh da! Sieh da, Timotheus,
Die Kraniche des Ibykus!" -
Und finster plötzlich wird der Himmel,
Und über dem Theater hin
Sieht man, in schwärzlichtem Gewimmel,
Ein Kranichheer vorüberziehn.

"Des Ibykus!" - Der teure Name
Rührt jede Brust mit neuem Grame,
Und wie im Meere Well auf Well,
So läufts von Mund zu Munde schnell.
"Des Ibykus, den wir beweinen,
Den eine Mörderhand erschlug!
Was ists mit dem? Was kann er meinen?
Was ists mit diesem Kranichzug?"

Und lauter immer wird die Frage,
Und ahndend fliegts, mit Blitzesschlage,
Durch alle Herzen "Gebet acht!
Das ist der Eumeniden Macht!
Der fromme Dichter wird gerochen,
Der Mörder bietet selbst sich dar!
Ergreift ihn, der das Wort gesprochen,
Und ihn, an dens gerichtet war."

Doch dem war kaum das Wort entfahren,
Möcht ers im Busen gern bewahren;
Umsonst, der schreckenbleiche Mund
Macht schnell die Schuldbewussten kund.
Man reisst und schleppt sie vor den Richter,
Die Szene wird zum Tribunal,
Und es gestehn die Bösewichter,
Getroffen von der Rache Strahl.



Das mußte ich mal auswendig lernen 8)
Lang, lang ist's her.
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Eisbär am 21 November 2004, 16:35:34
Die Brück' am Tay
Theodor Fontane
(entstanden Dez. 1879; Erstdruck 1880)


When shall we three meet again?
Macbeth

"Wann treffen wir drei wieder zusamm?"
   "Um die siebente Stund', am Brückendamm."
      "Am Mittelpfeiler."
                                   "Ich lösche die Flamm."
"Ich mit."

               "Ich komme vom Norden her."
"Und ich vom Süden."
                                   "Und ich vom Meer."

"Hei, das gibt einen Ringelreihn,
Und die Brücke muß in den Grund hinein."

"Und der Zug, der in die Brücke tritt
Um die siebente Stund'?"
                                       "Ei, der muß mit."
"Muß mit"

                "Tand, Tand
Ist das Gebilde von Menschenhand!"

    * * *

Auf der Norderseite, das Brückenhaus -
Alle Fenster sehen nach Süden aus,
Und die Brücknersleut' ohne Rast und Ruh
Und in Bangen sehen nach Süden zu,
Sehen und warten, ob nicht ein Licht
Übers Wasser hin "Ich komme" spricht,
"Ich komme, trotz Nacht und Sturmesflug,
Ich, der Edinburger Zug."

Und der Brückner jetzt: "Ich seh' einen Schein
Am anderen Ufer. Das muß er sein.
Nun, Mutter, weg mit dem bangen Traum,
Unser Johnie kommt und will seinen Baum,
Und was noch am Baume von Lichtern ist,
Zünd' alles an wie zum heiligen Christ,
Der will heuer zweimal mit uns sein, -
Und in elf Minuten ist er herein."

    * * *

Und es war der Zug. Am Süderturm
Keucht er vorbei jetzt gegen den Sturm,
Und Johnie spricht: "Die Brücke noch!
Aber was tut es, wir zwingen es doch.
Ein fester Kessel, ein doppelter Dampf,
Die bleiben Sieger in solchem Kampf.
Und wie's auch rast und ringt und rennt,
Wir kriegen es unter, das Element.

Und unser Stolz ist unsre Brück';
Ich lache, denk' ich an früher zurück,
An all den Jammer und all die Not
Mit dem elend alten Schifferboot;
Wie manche liebe Christfestnacht
Hab' ich im Fährhaus zugebracht
Und sah unsrer Fenster lichten Schein
Und zählte und konnte nicht drüben sein."

Auf der Norderseite, das Brückenhaus -
Alle Fenster sehen nach Süden aus,
Und die Brücknersleut' ohne Rast und Ruh
Und in Bangen sehen nach Süden zu;
Denn wütender wurde der Winde Spiel,
Und jetzt, als ob Feuer vom Himmel fiel',
Erglüht es in niederschießender Pracht
Überm Wasser unten... Und wieder ist Nacht

* * *

"Wann treffen wir drei wieder zusamm?"
   "Um Mitternacht, am Bergeskamm."
      "Auf dem hohen Moor, am Erlenstamm."

"Ich komme."
                     "Ich mit."
                                    "Ich nenn' euch die Zahl."
"Und ich die Namen."
                                   "Und ich die Qual"
"Hei!
         Wie Splitter brach das Gebälk entzwei."

                                                        "Tand, Tand
Ist das Gebilde von Menschenhand."
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Eisbär am 21 November 2004, 16:39:10
John Maynard                
Theodor Fontane

John Maynard!
"Wer ist Maynard?"
 
"John Maynard war unser Steuermann,
Aushielt er, bis er das Ufer gewann,
Er hat uns gerettet, er trägt die Kron',
Er starb für uns, unsre Liebe sein Lohn.
John Maynard."
 
Die "Schwalbe" fliegt über den Eriesee,
Gischt schäumt um den Bug wie Flocken von Schnee,
Von Detroit fliegt sie nach Buffalo -
Die Herzen aber sind frei und froh,
Und die Passagiere mit Kindern und Fraun
Im Dämmerlicht schon das Ufer schaun,
Und plaudernd an John Maynard heran
Tritt alles: "Wie weit noch, Steuermann;"
Der schaut nach vorn und schaut in die Rund':
"Noch dreißig Minuten... Halbe Stund'."
 
Alle Herzen sind froh, alle Herzen sind frei -
Da klingt's aus dem Schiffsraum her wie Schrei,
"Feuer!" war es, was da klang,
Ein Qualm aus Kajüt' und Luke drang,
Ein Qualm, dann Flammen lichterloh,
Und noch zwanzig Minuten bis Buffalo.
 
Und die Passagiere, buntgemengt,
Am Bugspriet stehn sie zusammengedrängt,
Am Bugspriet vorn ist noch Luft und Licht,
Am Steuer aber lagert sich's dicht,
Und ein Jammern wird laut: "Wo sind wir? wo?"
Und noch fünfzehn Minuten bis Buffalo. -
 
Der Zugwind wächst, doch die Qualmwolke steht,
Der Kapitän nach dem Steuer späht,
Er sieht nicht mehr seinen Steuermann,
Aber durchs Sprachrohr fragt er an:
"Noch da, John Maynard?"
 
"Ja, Herr. Ich bin."
 
"Auf den Strand! In die Brandung!"
 
"Ich halte drauf hin."
 
Und das Schiffsvolk jubelt: "Halt aus! Hallo!"
Und noch zehn Minuten bis Buffalo. -
 
"Noch da, John Maynard?" Und Antwort schallt's
Mit ersterbender Stimme: "Ja, Herr ich halt's!"
Und in die Brandung, was Klippe, was Stein,
Jagt er die "Schwalbe" mitten hinein.
Soll Rettung kommen, so kommt sie nur so.
Rettung: der Strand von Buffalo!
 
Das Schiff geborsten. Das Feuer verschwelt.
Gerettet alle. Nur einer fehlt!
 
Alle Glocken gehn; ihre Töne schwell'n
Himmelan aus Kirchen und Kapell'n,
Ein Klingen und Läuten, sonst schweigt die Stadt,
Ein Dienst nur, den sie heute hat:
Zehntausend folgen oder mehr,
Und kein Aug' im Zuge, das tränenleer.
 
Sie lassen den Sarg in Blumen hinab,
Mit Blumen schließen sie das Grab,
Und mit goldner Schrift in den Marmorstein
Schreibt die Stadt ihren Dankspruch ein:
"Hier ruht John Maynard! In Qualm und Brand
Hielt er das Steuer fest in der Hand,
Er hat uns gerettet, er trägt die Kron',
Er starb für uns, unsre Liebe sein Lohn.
John Maynard."
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Kenaz am 21 November 2004, 16:58:34
Du mußt das Leben nicht verstehen,
dann wird es werden wie ein Fest.
Und laß dir jeden Tag geschehen
so wie ein Kind im Weitergehen
von jedem Wehen
sich viele Blüten schenken läßt.

Sie aufzusammeln und zu sparen,
das kommt dem Kind nicht in den Sinn.
Es löst sie leise aus den Haaren,
drin sie so gern gefangen waren,
und hält den lieben jungen Jahren
nach neuen seine Hände hin.

(Rainer Maria Rilke)
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Kallisti am 21 November 2004, 17:28:46
@Kenaz

sehr schönes Gedicht - klar: Rilke ... !!   ;)

Kannte es noch gar nicht.

Aber: kann den "Rat" nicht befolgen: bin eben kein Kind mehr, habe "mit den Jahren" - wie wohl die meisten Menschen - die kindliche Unbeschwertheit, Unbefangenheit ... "eingebüßt" ... und ist schwer, das rückgängig zu machen  - da müsste man seine (Lebens-)Erfahrung(en) quasi löschen.
"Mensch" stellt eben Fragen nach "Sinn", "Grund"/"Ursache", "Bedeutung" ...  - du doch auch  ;)  ...

.... trotzdem schönes Gedicht!!

Gruß, Kallisti
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Sapor Vitae am 21 November 2004, 18:37:08
Im Nebel

Seltsam im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein,
Kein Baum sieht den andern,
Jeder ist allein.

Voll von Freunden war mir die Welt,
Als noch mein Leben licht war;
Nun, da der Nebel fällt,
Ist keiner mehr sichtbar.

Wahrlich, keiner ist weise,
Der nicht das Dunkel kennt,
Das unentrinnbar und leise
Von allen ihn trennt.

Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein.


Hermann Hesse
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Kenaz am 21 November 2004, 20:06:03
Ecce homo

Ja! Ich weiß, woher ich stamme!
Ungesättigt gleich der Flamme
Glühe und verzehr ich mich.
Licht wird alles, was ich fasse,
Kohle alles, was ich lasse:
Flamme bin ich sicherlich.

Friedrich Nietzsche
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: BetterOf2Evils am 22 November 2004, 08:53:34
Die Liebe  :inlove:

(Reiner Kunze)


Die Liebe ist eine wilde Rose in uns
Sie schlägt ihre Wurzeln in den Augen,
wenn sie dem Blick des Geliebten begegnen.
Sie schlägt ihre Wurzeln in den Wangen,
wenn sie den Hauch des Geliebten spüren.
Sie schlägt ihre Wurzeln in der Haut des Armes,
wenn ihn die Hand des Geliebten berührt.

Sie schlägt ihre Wurzeln,
wächst, wuchert
und eines abends
oder eines morgens
fühlen wir nur:
Sie verlangt Raum in uns.

Die Liebe ist eine wilde Rose in uns,
unerforschbar vom Verstand
und ihm nicht Untertan.
Aber der Verstand ist ein Messer in uns.

Der Verstand ist ein Messer in uns,
zu schneiden der Rose
durch hundert Zweige
einen Himmel.
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: BetterOf2Evils am 22 November 2004, 08:57:37
Wenn Du nicht da bist
(Heinz Kahlau)

Wenn Du nicht da bist,
hab ich noch immer,
was Du gesagt hast
und Dein Gesicht.

Von Deinen Worten
behalt ich am längsten
die leisen.
Fast ihren Klang nur,
das Streicheln.
Dann sind da solche,
die wehtun,
- schwer zu vergessen.

Von den Gesprächen wird bleiben,
nur was uns neu war.
Wo die Gedanken sich trafen.
Da ist der Klang Deiner Stimme
am wenigsten weiblich,
aber sehr menschlich.

Nie zu vergessen ist Dein Gesicht.
Schönheit vergisst man mitunter durch Nähe.
Mir ist aber Dein Gesicht so lebendig wie Erde.
So sehr sind Gesichter es selten.

Wenn Du nicht da bist,
weiß ich ganz sicher,
was Du gesagt hast
und Dein Gesicht.

 :?
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Kallisti am 22 November 2004, 08:57:40
Einer Toten

Theodor Storm


Das aber kann ich nicht ertragen,
Daß so wie sonst die Sonne lacht;
Daß wie in deinen Lebenstagen
Die Uhren gehn, die Glocken schlagen,
Einförmig wechseln Tag und Nacht;

Daß, wenn des Tages Lichter schwanden,
Wie sonst der Abend uns vereint;
Und daß, wo sonst dein Stuhl gestanden,
Schon andre ihre Plätze fanden,
Und nichts dich zu vermissen scheint
;

Indessen von den Gitterstäben
Die Mondesstreifen schmal und karg
In deine Gruft hinunterweben
Und mit gespenstig trübem Leben
Hinwandeln über deinen Sarg.



(... mir aus der Seele gesprochen...)





Schließe mir die Augen beide

Th. Storm



Schließe mir die Augen beide
Mit den lieben Händen zu!
Geht doch alles, was ich leide,
Unter deiner Hand zur Ruh.

Und wie leise sich der Schmerz
Well um Welle schlafen leget,
Wie der letzte Schlag sich reget,
Füllest du mein ganzes Herz.
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: BetterOf2Evils am 22 November 2004, 08:59:02
Manche freilich      
(Hugo von Hofmannsthal)

Manche freilich müssen drunten sterben
wo die schweren Ruder der Schiffe streifen,
andere wohnen bei dem Steuer droben,
kennen Vogelflug und die Länder der Sterne.
 
Manche liegen mit immer schweren Gliedern
bei den Wurzeln des verworrenen Lebens,
anderen sind die Stühle gerichtet
bei den Sibyllen, den Königinnen,
und da sitzen sie wie zu Hause,
leichten Hauptes und leichter Hände.
 
Doch ein Schatten fällt von jenen Leben
in die anderen Leben hinüber,
und die leichten sind an die schweren
wie an Luft und Erde gebunden.
 
Ganz vergessener Völker Müdigkeiten
kann ich nicht abtun von meinen Lidern,
noch weghalten von der erschrockenen Seele
stummes Niederfallen ferner Sterne.
 
Viele Geschicke weben neben dem meinen,
durcheinander spielt sie all das Dasein,
und mein Teil ist mehr als dieses Lebens
schlanke Flamme oder schmale Leier.
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: BetterOf2Evils am 22 November 2004, 08:59:51
Wie eine Welle
(Hesse)


Wie eine Welle, die vom Schaum gekränzt
Aus blauer Flut sich voll Verlangen reckt
Und müd und schön im großen Meer verglänzt -
Wie eine Wolke, die im leisen Wind
Hinsegelnd aller Pilger Sehnsucht weckt
Und blaß und silbern in den Tag verrinnt -
Und wie ein Lied am heißen Staßenrand
Fremdtönig klingt mit wunderlichen Reim
Und dir das Herz entführt weit über Land -
So weht mein Leben flüchtig durch die Zeit,
Ist bald vertönt und mündet doch geheim
Ins Reich der Sehnsucht und der Ewigkeit.
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: BetterOf2Evils am 22 November 2004, 09:02:35
Klage
(Hesse Januar 1934)

Uns ist kein Sein vergönnt. Wir sind nur Strom,
Wir fließen willig allen Formen ein:
Dem Tag, der Nacht, der Höhle und dem Dom,
Wir gehn hindurch, uns treibt der Durst nach Sein.

So füllen Form um Form wir ohne Rast,
Und keine wird zur Heimat uns, zum Glück, zur Not,
Stets sind wir unterwegs, stets sind wir Gast,
Uns ruft nicht Feld noch Pflug, uns wächst kein Brot.

Wir wissen nicht, wie Gott es mit uns meint,
Er spielt mit uns, dem Ton in seiner Hand,
Der stumm und bildsam ist, nicht lacht noch weint,
Der wohl geknetet wird, doch nie gebrannt.

Einmal zu Stein erstarren! Einmal dauern!
Danach ist unsre Sehnsucht ewig rege,
Und bleibt doch ewig nur ein banges Schauern,
Und wird doch nie zur Rast auf unsrem Wege.


*wie wahr, wie wahr*
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Kallisti am 22 November 2004, 09:07:46
Wähne nicht

Betty Paoli


Wähne nicht, daß in dem Weltgewühle,
Je ein Herz so wie das Deine fühle,
Daß ein andres folge Deiner Spur.
Wähne nicht, in sehnendem Umschlingen,
Andrer Herzen also durchzudringen,
Daß sie mit dem Deinen eines nur.

Einsam bist Du, ob die bunte Menge,
Lobend oder tadelnd Dich umdränge,
Einsam in dem Kampf wie in der Ruh.
Einsam, bei der Freunde Scheinerbarmen,
Einsam selbst in Deines Liebsten Armen,
Denn sie alle sind nur sie, nicht Du.

Lerne drum, aus ihrem Kreis verschwinden,
Dich in Deiner eignen Brust zurechtzufinden,
Lerne Du, Dein eigner Freund zu sein!
Alle Schwüre, die sie Dir versprechen,
Unwillkürlich werden sie sie brechen.
Deines Lebens Losung heißt: Allein!





(... jede Zeile: Wahrheit !)
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Kallisti am 22 November 2004, 09:09:07
@Betterof2Evils

... wir sind wohl grade in ähnlicher Stimmung ...    ;)
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: BetterOf2Evils am 22 November 2004, 09:11:17
Einsam bist du sehr alleine
(Erich Kästner 1947)

Aus der Wanduhr tropft die Zeit.
Stehst am Fenster. Starrst auf Steine.
Träumst von Liebe. Glaubst an keine.
Kennst das Leben. Weißt Bescheid.

Einsam bist du sehr alleine -
und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.

Wünsche gehen auf die Freite.
Glück ist ein verhexter Ort.
Kommt dir nahe. Weicht zur Seite.
Sucht vor Suchenden das Weite.
Ist nie hier. Ist immer dort.
Stehst am Fenster. Starrst auf Steine.
Sehnsucht krallt sich in dein Kleid.

Einsam bist du sehr alleine -
und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.

Schenkst dich hin. Mit Haut und Haaren.
Magst nicht bleiben, wer du bist.
Liebe treibt die Welt zu Paaren.
Wirst getrieben. Musst erfahren,
dass es nicht die Liebe ist ...

Bist sogar im Kuss alleine.
Aus der Wanduhr tropft die Zeit.
Gehst ans Fenster. Starrst auf Steine.
Brauchtest Liebe. Findest keine.
Träumst vom Glück. Und lebst im Leid.

Einsam bist du sehr alleine -
und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.


 :?  
Oh mann, ich und meine traurigen (Liebes-)Gedichte... *schlimmschlimm*
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: BetterOf2Evils am 22 November 2004, 09:14:41
Zitat von: "Kallisti"
@Betterof2Evils

... wir sind wohl grade in ähnlicher Stimmung ...    ;)


Kallisti, da hast Du ja mal den richtigen Thread für mich eröffnet!!  :)   :biglaugh: Ich könnt ja hier ständig was posten....

...aber nu leg ich erstmal nen Päuschen ein.. wir wollen die werten Leser ja nicht "lyrisch zudecken"  :o
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Kallisti am 22 November 2004, 09:18:53
Laß mich dir entfalten

Friedrich Nietzsche


Laß mich dir entfalten
Mein verschlossen Herz!
Deiner Liebe heimlich Walten
Ruht so gnadenvoll und mild
Auf meinem kalten,
Welteinsamen Schmerz,
Daß von Sehnsucht quillt
In mir nach dir,
Du lichte Himmelskerz´!

Laß mich dir erschließen,
Wie mich übertaut
Deines Geistes heimlich Grüßen,
Wenn du auf mich hingeblickt
Zu deinen Füßen
Und mich lieb und traut
An dich gedrückt,
Selig war ich,
Mein Herz schlug mir so laut.




(... unter Tränen...    - "noch" immer : in Trauer... )
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Kallisti am 22 November 2004, 09:27:52
Engellieder

Rainer Maria Rilke


Ich ließ meinen Engel lange nicht los,
und er verarmte mir in den Armen
und wurde klein, und ich wurde groß:
und auf einmal war ich das Erbarmen,
und er eine zitternde Bitte bloß.

Da hab ich ihm seinen Himmel gegeben, -
und er ließ mir das Nahe, daraus er entschwand,
er lernte das Schweben, ich lernte das Leben,
und wir haben langsam einander erkannt...

Seit mich mein Engel nicht mehr bewacht,
kann er frei seine Flügel entfalten
und die Stille der Sterne durchspalten, -
denn er muß meine einsame Nacht
nicht mehr die ängstlichen Hände halten -
seit mich mein Engel nicht mehr bewacht.

Hat auch mein Engel keine Pflicht mehr,
seit ihn mein strenger Tag vertrieb,
oft senkt er sehnend sein Gesicht her
und hat die Himmel nicht mehr lieb.

Er möchte wieder aus armen Tagen
über der Wälder rauschendem Ragen
meine blassen Gebete tragen
in die Heimat der Cherubim ...


(... wenn es nur so wäre - wenn es "Engel" gäbe, wenn es "Ewigkeit" gäbe, wenn "die Seele" doch unsterblich wär - wenn es doch ein "Wiedersehen" gäbe ... !)
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: BetterOf2Evils am 22 November 2004, 09:28:09
Na guuuut, ein wunderbares und wahres Gedicht von Hesse noch:

Stufen

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne
,
um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
in andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
an keinem wie an einer Heimat hängen,
der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
des Lebens Ruf an uns wird niemals enden….
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!



@Kallisti, Wähne nicht von Betty Paoli find ich sehr schön!
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Kallisti am 22 November 2004, 09:44:22
Übergang II

Axel Görlach
(aus "Auszeit", Anthologie, Edition L)


hebt sich schwer die Brust als hätte jedes
jener dreiundachtzig Jahre sein Gewicht und
dieses letzte schließlich drückt so unerbittlich dir
das Atmen nieder dass deine sonst so
unerschrockne feste Stimme nur ein leises
loses Stammeln ist doch ich weiß
es ist das Wasser das du liebst so wie den Wind
das dir die Lunge überfüllt bis hin
zur letzten Alveole und du den Gasaustausch
jetzt gegen irgendetwas Unbekanntes Andres
tauschst das macht dir Angst und deine
ausgestreckte Hand greift nach der Fülle
früher Bilder wie nur du sie siehst als könntest du
dich daran halten doch mich lässt das nicht mehr los
was sie mir sagte dass du dein schwindendes
Bewusstsein einmal noch so ganz
zusammennahmst und meinen Namen deutlich
fragend in die Leere sprachst und ich
nicht da war nicht an deinen Lippen saß





(... ja: das lässt mich nie mehr los ...)
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Kenaz am 22 November 2004, 09:47:59
Spät im Jahre

Spät im Jahre, tief im Schweigen
dem, der ganz sich selbst gehört,
werden Blicke niedersteigen,
neue Blicke, unzerstört.

Keiner trug an deinen Losen,
keiner frug, ob es gerät -,
Saum von Wunden, Saum von Rosen -,
weite Blicke, sommerspät.

Dich verstreut und dich gebunden,
dich verhüllt und dich entblößt -,
Saum von Rosen, Saum von Wunden -,
letzte Blicke, selbsterlöst.

Gottfried Benn
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: BetterOf2Evils am 22 November 2004, 09:53:09
Och menno, Kenaz, wenn Du auch noch mit G. Benn kommst, MUSS ich ja geradzu noch n Gedicht posten....  :roll:

Abschied
(Gottfried Benn)

Du füllst mich an wie Blut die frische Wunde
und rinnst hernieder seine dunkle Spur,
du dehnst dich aus wie Nacht in jener Stunde,
da sich die Matte färbt zur Schattenflur,
du blühst wie Rosen schwer in Gärten allen,
du Einsamkeit aus Alter und Verlust,
du Überleben, wenn die Träume fallen,
zuviel gelitten und zuviel gewusst.
 
Entfremdet früh dem Wahn der Wirklichkeiten,
versagend sich der schnell gegebenen Welt,
ermüdet von dem Trug der Einzelheiten,
da keine sich dem tiefen Ich gesellt;
nun aus der Tiefe selbst, durch nichts rühren,
und die kein Wort und Zeichen je verrät,
musst du dein Schweigen nehmen, Abwärtsführen
zu Nacht und Trauer und den Rosen spät.
 
Manchmal noch denkst du dich --: die eigene Sage --:
das warst du doch --? ach, wie du dich vergasst!
war das dein Bild? war das nicht deine Frage,
dein Wort, dein Himmelslicht, das du besasst?
Mein Wort, mein Himmelslicht, dereinst besessen,
mein Wort, mein Himmelslicht, zerstört, vertan --
wem das geschah, der muss sich wohl vergessen
und rührt nicht mehr die alten Stunden an.
 
Ein letzter Tag --: spätglühend, weite Räume,
ein Wasser führt dich zu entrücktem Ziel,
ein hohes Licht umströmt die alten Bäume
und schafft im Schatten sich ein Widerspiel,
von Früchten nichts, aus Ähren keine Krone
und auch nach Ernten hat er nicht gefragt --
er spielt sein Spiel, und fühlt sein Licht und ohne
Erinnern nieder -- alles ist gesagt.
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Kenaz am 22 November 2004, 09:57:26
Jena

"Jena vor uns im lieblichen Tale"
schrieb meine Mutter von einer Tour
auf einer Karte vom Ufer der Saale,
sie war in Kösen im Sommer zur Kur;
nun längst vergessen, erloschen die Ahne,
selbst ihre Handschrift, Graphologie,
Jahre des Werdens, Jahre der Wahne,
nur diese Worte vergesse ich nie.

Es war kein berühmtes Bild, keine Klasse,
für lieblich sah man wenig blühn,
schlechtes Papier, keine holzfreie Masse,
auch waren die Berge nicht rebengrün,
doch kam man vom Lande, von kleinen Hütten,
so waren die Täler wohl lieblich und schön,
man brauchte nicht Farbdruck, man brauchte nicht Bütten,
man glaubte, auch andere würden es sehn.

Es war wohl ein Wort von hoher Warte,
ein Ausruf hatte die Hand geführt,
sie bat den Kellner um eine Karte,
so hatte die Landschaft sie berührt,
und doch - wie oben - erlosch die Ahne
und das gilt für alle und auch für den,
die - Jahre des Werdens, Jahre der Wahne -
heute die Stadt im Tale sehn.

Gottfried Benn


@ Bedde: Jaja, Benn ist einer meiner Allerliebsten!  :)  - "Die Liebe" von Reiner Kunze fand ich übrigens sehr, sehr schön.
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Kallisti am 22 November 2004, 10:00:36
Tage nach Neujahr

Horst Saul


Die grellen Fenster sind zersprungen
an Wolken, die stets unstet leben,
und ist der Anfang auch gelungen
das Ende erst wird Antwort geben.
Ich schreibe viel ins Buch der Tage
von Trauer und vom kleinen Glück,
doch immer kehrt die alte Frage
nach Sinn und Ziel zu mir zurück.

Im Garten nur die Zaubernuss
sie streichelt mich mit ihrem Kuss
an Tagen, die wie Nächte sind.
Sie machen fast vor Trübnis blind
und wollen meinen Geist bewohnen.
Sie sollten für die Mühe lohnen,
wenn wilde Stürme Meere falten,
das Herzschiff auf dem Kurs zu halten
zu Ufern, die aus Hoffnung sind.



(aus: "Auszeit", Edition L)
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Kenaz am 22 November 2004, 10:05:38
Dein Haar überm Meer

Es schwebt auch dein Haar überm Meer mit dem goldnen Wacholder.
Mit ihm wird es weiß, dann färb ich es steinblau:
die Farbe der Stadt, wo zuletzt ich geschleift ward gen Süden ...
Mit Tauen banden sie mich und knüpften an jedes ein Segel
und spieen mich an aus nebligen Mäulern und sangen:
"O komm übers Meer!"
Ich aber malt als ein Kahn die Schwingen mir purpurn
und röchelte selbst mir die Brise und stach, eh sie schliefen, in See.
Ich sollte sie rot dir nun färben, die Locken, doch lieb ich sie steinblau:
O Augen der Stadt, wo ich stürzte und südwärts geschleift ward!
Mit dem goldnen Wacholder schwebt auch dein Haar
überm Meer.

Paul Celan
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Kallisti am 22 November 2004, 10:14:16
Und fändest du wieder

Siegfried Swiderski


Und fändest du wieder
mit zärtlichen Händen
das Kind in mir
vor meinem Tod,
ich hätte nur noch
Gründe zu weinen,
denn,
sprachlos noch immer,
mit ihrem Flug
die verwundeten Vögel
streiften wieder
nichts als Trauer
vom steinernen Herz.

Und fändest du wieder
mit zärtlichen Lippen
die Angst in mir
vor meinem Tod,
ich hätte nicht mehr
Gründe zu bleiben,

denn,
sprachlos noch immer,
in mir die Wölfe
mit ihrem Hunger

streiften wieder
nichts als die Fröste
vom verlorenen Tag.



Und fändest du wieder
mit zärtlichen Worten
die Sehnsucht in mir
vor meinem Tod,
ich hätte nur noch
Gründe zu sterben,

denn,
sprachlos noch immer,
die Liebe in mir
auf gekenterten Flößen

streifte wieder
nichts  als die Fremde
vom salzigen Meer.



(aus der Anthologie "Auszeit", Edition L, Czernik-Verlag)
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Eisbär am 22 November 2004, 13:25:31
Über die Verführung der Engel
  Bertolt Brecht

    Engel verführt man gar nicht oder schnell.
    Verzieh ihn einfach in den Hauseingang
    Steck ihm die Zunge in den Mund und lang
    Ihm untern Rock, bis er sich nass macht, stell
    Ihn das Gesicht zur Wand, heb ihm den Rock
    Und fick ihn. Stöhnt er irgendwie beklommen
    Dann halt ihn fest und lass ihn zweimal kommen
    Sonst hat er dir am Ende einen Schock.

    Ermahn ihn, dass er gut den Hintern schwenkt
    Heiß ihn dich ruhig an den Hoden fassen
    Sag ihm, er darf sich furchtlos fallen lassen
    Dieweil er zwischen Erd und Himmel hängt -

    Doch schau ihm beim Ficken nicht ins Gesicht
    Und seine Flügel, Mensch, zerdrück sie nicht!
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Kallisti am 22 November 2004, 22:56:02
Liebeslied

Hermann Hesse


Ich singe von deinem seidenen Schuh
Und von deinem rauschenden Kleid,
Ich träume dich jede Nacht, o du,
Meine Böse, mein Herzeleid!

Ich weiß keinen Namen als deinen,
Ich kann um keinen Schmerz
Und um keine Lust mehr weinen,

Als um dich allein, mein Herz.

Ich will kein Glück mehr kennen
Und keine andere Not,
Als um dich in Sehnsucht brennen -
O du, WARUM BIST DU TOT ?  
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: BetterOf2Evils am 23 November 2004, 14:28:51
Ich leb getrennt von mir.
Mir zur Seite geh ich
Durch die Stadt. Ich geh
Durch mich hindurch,
Aus mir heraus und
Ein in mich. Begegne mir:
Inmitten. Und stelle mich
Mir vor. Ich hör mir zu,
Ich gebe mir die Hand: Auf bald.
Vielleicht sehe ich mich irgendwann
Mal wieder: Die Floskel
Überbrückt den Augenblick.
Noch weiß ich nicht,
Wo ich mich finde:
Wieder oder ein.
Auch möglich: Ich verlier mich
Aus den Augen.
Aus dem Sinn.
Und eines Tages
Finde ich mich nicht mehr
Vor. Und nicht zurück:
Ein Fremder
Steht vor einem Fremden.
Schweigt.

(Luthardt)
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Kallisti am 24 November 2004, 08:46:59
Ausgang

Theodor Fontane


Immer enger, leise, leise
Ziehen sich die Lebenskreise,
Schwindet hin, was prahlt und prunkt,
Schwindet Hassen, Hoffen, Lieben.
Und ist nichts in Sicht geblieben
Als der letzte tote Punkt.









Abendlied

Johann Christian Günther

Abermal ein Teil vom Jahre,
Abermal ein Tag vollbracht;
Abermal ein Brett zur Bahre
Und ein Schritt zur Gruft gemacht.
Also nähert sich die Zeit
Nach und nach der Ewigkeit,
Also müssen wir auf Erden
Zu dem Tode reifer werden.
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: BetterOf2Evils am 25 November 2004, 09:26:23
Entfremdung
(Ingeborg Bachmann)

In den Bäumen kann ich keine Bäume mehr sehen.
Die Äste haben nicht die Blätter, die sie in den Wind halten.
Die Früchte sind süß, aber ohne Liebe.
Sie sättigen nicht einmal.
Was soll nur werden?
Vor meinen Augen flieht der Wald,
vor meinem Ohr schließen die Vögel den Mund,
für mich wird keine Wiese zum Bett.
Ich bin satt vor der Zeit
und hungre nach ihr.
Was soll nur werden?
 
Auf den Bergen werden nachts die Feuer brennen.
Soll ich mich aufmachen, mich allem wieder nähern?
 
Ich kann in keinem Weg mehr einen Weg sehen.
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Kallisti am 25 November 2004, 10:08:54
Ein Wort

Gottfried Benn


Ein Wort, ein Satz - : Aus Chiffren steigen
erkanntes Leben, jäher Sinn,
die Sonne steht, die Sphären schweigen
und alles ballt sich zu ihm hin.

Ein Wort - ein Glanz, ein Flug, ein Feuer,
ein Flammenwurf, ein Sternenstrich -
und wieder Dunkel, ungeheuer,
im leeren Raum um Welt und Ich.
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: TeeRabe am 28 November 2004, 09:37:22
Nun,da die Worte verstummt,
Bring ich ein Blatt,eineBlume und einen Stein.

Ein Blatt für mein Mund,
Der nicht mehr reden kann,
Wo dein Auge trifft
In der Adern verschlungener Schrift
Als Hieroglyphe verwebt
Den Gedanken, der tastend strebt
Und doch sicher zu deinem Grund:
Ein Blatt für meinen Mund.

Eine Blume für mein Herz,
Das keinen Sang mehr weiß.
Reiner als ein Lied
Der Duft aufwärts flieht,
Blüte um Blüte,
Empor zu Dir.
Und es klingt in mir
Musik,die tiefer dringt,
Schlichter als es der Kunst gelingt:
Eine Blume für mein Herz.

Ein Stein für meine Hand,
Der schweigend sich niederläßt
Auf deiner flachen Hand,
Ein Vogel auf seinem Nest.
Spiralig er aufwärts flog,
Hört´mitten im Fluge den Schrei,
Der ihn jählings niederzog,
Erdenwärts, heimwärts wie Blei,
Von einer Schwerkraft gelenkt,
Die er selbst nicht verstand:
Ein Stein für meine Hand.

Nun sind die Worte verstummt,
Du aber weiß, wenn ich singe
Für andere, daß ich bringe
Nur dir allein
Ein Blatt,eine Blume und einen Stein.

Von Anne Morrow Lindbergh
aus dem Buch "Muscheln, Wind und Wellen"
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Kallisti am 28 November 2004, 11:15:05
@ Kuroi tenshi

...  wunderschönes Gedicht (das von Anne Morrow Lindbergh)!!




Gedicht

Gottfried Benn


Und was bedeuten diese Zwänge,
halb Bild, halb Wort und halb Kalkül,
was ist in dir, woher die Dränge
aus stillem trauernden Gefühl ?


Es strömt dir aus dem Nichts zusammen,
aus Einzelnem, aus Potpourri,
dort nimmst du Asche, dort die Flammen,
du streust und löschst und hütest sie.

Du weißt, du kannst nicht alles fassen,
umgrenze es, den grünen Zaun
um dies und das, du bleibst gelassen,
doch auch gebannt in Mißvertraun.

So Tag und Nacht bist du am Zuge,
auch sonntags meißelst du dich ein
und klopfst das Silber in die Fuge,
dann läßt du es - es ist: das Sein.
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: TeeRabe am 28 November 2004, 11:49:37
Von Georg Trakl aus dem Buch " Sebastian im Traum"

DER HERBST DES EINSAMEN

Der dunkle Herbst kehrt ein voll Frucht und Fülle,
Vergilbter Glanz von schönen Sommertagen.
Ein reines Blau tritt aus verfallener Hülle;
Der Flug der Vögel tönt von alten Sagen.
Gekelter ist der Wein, die milde Stille
Erfüllt von leiser Antwort dunkler Fragen.

Und hier und dort ein Kreuz auf ödem Hügel;
Im roten Wald verliert sich eine Herde.
Die Wolke wandert übern Weiherspiegel;
Es ruht des Landmanns ruhige Geberde.
Sehr leise rührt des Abends blauer Flügel
Ein Dach von dürrem Stroh,die schwarze Erde.

Bald nisten Sterne in des Müden Brauen;
Im kühlen Stuben kehrt ein still Bescheiden
Und Engel treten leise aus den blauen
Augen der Liebenden,die sanfter leiden.
Es rauscht das Rohr; anfällt ein knöchern Grauen,
Wenn schwarz der Tau tropft von den kahlen Weiden.
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Kallisti am 28 November 2004, 11:54:54
@Kuroi tenshi

... ja: so (bildhaft ... ) müsste man schreiben können (wie Trakl...)!!
Auch sehr schönes Gedicht  ("Der Herbst des Einsamen")!!

Hast du noch mehr so tolle Gedichte ???
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: TeeRabe am 28 November 2004, 12:03:03
Zitat von: "Kallisti"
@Kuroi tenshi

... ja: so (bildhaft ... ) müsste man schreiben können (wie Trakl...)!!
Auch sehr schönes Gedicht  ("Der Herbst des Einsamen")!!

Hast du noch mehr so tolle Gedichte ???



Habe ein Nachdruck von 1913 in 2 Bänden von Georg Trakl, sowie mehere Gedichtsbände  :D

Von Georg Trakl aus dem Buch " Gedichte"

DIE RABEN

Über den schwarzen Winkel hasten
Am Mittag die Raben mit hartem Schrei.
Ihr Schatten streift an der Hirschkuh vorbei
Und manchmal sieht man sie mürrisch rasten.

O wie sie die braune Stille stören,
In der ein Acker sich verzückt,
Wie ein Weib,das schwere Ahnung berückt,
Und manchmal kann man sie keifen hören

Um ein Aas, das sie irgendwo wittern,
Und plötzlich richten nach Nord sie den Flug
Und schwinden wie ein Leichenzug
In Lüften,die Wollust zittern.
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Kallisti am 28 November 2004, 12:10:20
"... und schwinden wie ein Leichenzug
in Lüften, die Wollust zittern."


... ist das nicht großartig!?
Da werd ich echt "ehrfürchtig" - wes "Geist" solche sprachliche Musik hervorbringt - und dabei nicht nur Musik, sondern auch inhaltlich so reich...!!
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Lilyanar am 29 November 2004, 13:19:50
Ingeborg Bachmann  - Schatten Rosen Schatten

Unter einem fremden Himmel
Schatten Rosen
Schatten
auf einer fremden Erde
zwischen Rosen und Schatten
in einem fremden Wasser
mein Schatten

(aus: "Die gestundete Zeit")
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Lilyanar am 29 November 2004, 13:25:55
Georg Trakl - "An die Verstummten"
O, der Wahnsinn der großen Stadt, da am Abend
An schwarzer Mauer verkrüppelte Bäume starren;
aus silberner Maske der Geist des Bösen schaut;
Licht mit magnetischer Geißel die steinerne Nacht verdrängt.
O, das versunkene Läuten der Abendglocken.

Hure, die in eisigen Schauern ein totes Kindlein gebärt.
Rasend peitscht Gottes Zorn die stitne des Besessenen,
Purpurne Seuche, Hunger, der grüne Augen zerbricht.
O, das gräßliche Lachen des Golds.

Aber Stille blutet in dunkler höhle stummere Menschheit,
Fügt aus harten Metallen das erlösende Haupt.
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Lilyanar am 29 November 2004, 13:28:48

Gottfried Benn ( 1886 – 1956): Schöne Jugend


Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte,
sah so angeknabbert aus.
Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löcherig.
Schließlich in einer Laube unter dem Zwerchfell
fand man ein Nest von jungen Ratten.
Ein kleines Schwesterchen lag tot.
Die andern lebten von Leber und Niere,
tranken das kalte Blut und hatten
hier eine schöne Jugend verlebt.
Und schön und schnell kam auch ihr Tod:
Man warf sie allesamt ins Wasser.
Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten!

Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: kb am 29 November 2004, 15:01:25
"Alte Rose", Heinrich Heine

Eine Rosenknospe war
Sie, für die mein Herze glühte;
Doch sie wuchs, und wunderbar
Schoß sie auf in voller Blüte.
Ward die schönste Ros' im Land,
Und ich wollt die Rose brechen,
Doch sie wußte mich pikant
Mit den Dornen fortzustechen.

Jetzt, wo sie verwelkt, zerfetzt
Und verklatscht von Wind und Regen -
»Liebster Heinrich« bin ich jetzt,
Liebend kommt sie mir entgegen.

Heinrich hinten, Heinrich vorn,
Klingt es jetzt mit süßen Tönen;
Sticht mich jetzt etwa ein Dorn,
Ist es an dem Kinn der Schönen.

Allzu hart die Borsten sind,
Die des Kinnes Wärzchen zieren -
Geh ins Kloster, liebes Kind,
Oder lasse dich rasieren.
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Lilyanar am 29 November 2004, 15:32:22

Ingeborg Bachmann - IM GEWITTER DER ROSEN

Wohin wir uns wenden im Gewitter der Rosen,
ist die Nacht von Dornen erhellt,
und der Donner des Laubs,
das so leise war in den Büschen,
folgt uns nun auf dem Fuß

("Die gestundete Zeit")
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Lilyanar am 29 November 2004, 15:38:04

Ingeborg Bachmann   -   REKLAME

Wohin aber gehen wir
ohne sorge sei ohne sorge
wenn es dunkel und wenn es kalt wird
sei ohne sorge
aber
mit musik
was sollen wir tun
heiter und mit musik
und denken
heiter
angesichts eines Endes
mit musik
und wohin tragen wir
am besten
unsre Fragen und den Schauer aller Jahre
in die Traumwäscherei ohne sorge sei ohne sorge
was aber geschieht
am besten
wenn Totenstille

eintritt
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Rose am 03 Dezember 2004, 04:08:53
Schmetterling
Nelly Sachs

Welch schönes Jenseits
ist in deinen Staub gemalt.
Durch den Flammenkern der Erde,
durch ihre steinerne Schale
wurdest du gereicht,
Abschiedswebe in der Vergänglichkeiten Maß.

Schmetterling
aller Wesen gute Nacht!
Die Gewichte von Leben und Tod
senken sich mit deinen Flügeln
auf die Rose nieder
die mit dem heimwärts reifenden Licht welkt.

Welch schönes Jenseits
ist in deinen Staub gemalt.
Welch Königszeichen
im Geheimnis der Luft.
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: BetterOf2Evils am 06 Dezember 2004, 09:07:47
In the dangling conversation
(Simon & Garfunkel)

It's a still life water colour
Of a now late afternoon
As the sun shines through the curtained lace
And the shadows wash the room
And we sit and drink our coffee
Couched in our indifference
Like shells upon the shore
You can hear the ocean roar
In the dangling conversation
And the superficial sighs
The borders of our lives

And you read your Emily Dickinson
And I my Robert Frost
And we note our place with book markers
That measure what we've lost
Like a poem poorly written
We are verses out of rhythm
Couplets out of rhyme
In syncopated time
And the dangling conversation
And the superficial sighs
Are the borders of our lives

Yes, we speak of things that matter
With words that must be said
Can an analysis be worthwhile?
Is the theatre really dead?
And how the room is softly faded
And I only kiss your shadow
I cannot feel your hand
You're a stranger now unto me
Lost in the dangling conversation
And the superficial sighs
In the borders of our lives
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Kenaz am 06 Dezember 2004, 09:24:44
Kann mir einer sagen, wohin
ich mit meinem Leben reiche?
Ob ich nicht auch noch im Sturme streiche
und als Welle wohne im Teiche,
und ob ich nicht auch noch die blasse, bleiche
frühlingsfrierende Birke bin?


Rainer Maria Rilke


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Mein Leben ist wie leise See:
Wohnt in den Uferhäusern das Weh,
wagt sich nicht aus den Höfen.
Nur manchmal zittert ein Nahn und Fliehn:
Aufgestörte Wünsche ziehn
darüber wie silberne Möven.

Und dann ist alles wieder still ...
Und weißt du was mein Leben will,
hast du es schon verstanden?
Wie eine Welle im Morgenmeer
will es, rauschend und muschelschwer,
an deiner Seele landen.


Rainer Maria Rilke
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Kallisti am 06 Dezember 2004, 12:06:29
Na dann auch noch eins von Rilke:
(hatten wir das schon?)




Der Schwan

R.M. Rilke


Diese Mühsal, durch noch Ungetanes
schwer und wie gebunden hinzugehn,
gleicht dem ungeschaffnen Gang des Schwanes.

Und das Sterben, dieses Nichtmehrfassen
jenes Grunds, auf dem wir täglich stehn,
seinem ängstlichen Sich-Niederlassen -:

in die Wasser, die ihn sanft empfangen
und die sich, wie glücklich und vergangen,
unter ihm zurückziehn, Flut um Flut;
während er unendlcih still und sicher
immer mündiger und königlicher
und gelassener zu ziehn geruht
.


~
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Heckse am 12 März 2005, 14:39:34
Ballade des äußeren Lebens

Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen,
Die von nichts wissen, wachsen auf und sterben,
Und alle Menschen gehen ihre Wege.

Und süße Früchte werden aus den herben
Und fallen nachts wie tote Vögel nieder
Und liegen wenig Tage und verderben.

Und immer weht der Wind, und immer wieder
Vernehmen wir und reden viele Worte
Und spüren Lust und Müdigkeit der Glieder.

Und Straßen laufen durch das Gras, und Orte
Sind da und dort, voll Fackeln, Bäumen, Teichen,
Und drohende, und totenhaft verdorrte...

Wozu sind diese aufgebaut? und gleichen
Einander nie? und sind unzählig viele?
Was wechselt Lachen, Weinen und Erbleichen?

Was frommt das alles uns und diese Spiele,
Die wir doch groß und ewig einsam sind.
Und wandernd nimmer suchen irgend Ziele?

Was frommt´s, dergleichen viel gesehen haben?
Und dennoch sagt der viel, der "Abend" sagt,
Ein Wort, daraus Tiefsinn und Trauer rinnt

Wie schwerer Honig aus den hohlen Waben.

Hugo von Hofmannsthal
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Heckse am 12 März 2005, 14:42:13
Mein Herz, mein Herz ist traurig

Mein Herz, mein Herz ist traurig,
doch lustig leuchtet der Mai;
ich stehe, gelehnt an der Linde,
hoch auf der alten Bastei.

Da drunten fließt der blaue
Stadtgraben in stiller Ruh;
ein Knabe fährt im Kahne,
und angelt und pfeift dazu.

Jenseits erheben sich freundlich,
in winziger, bunter Gestalt,
Lusthäuser, und Gärten, und Menschen,
und Ochsen, und Wiesen, und Wald.

Die Mägde bleichen Wäsche,
und springen im Gras herum;
das Mühlrad stäubt Diamanten,
ich höre sein fernes Gesumm.

Am alten grauen Turme
ein Schilderhäuschen steht;
ein rotgeröckter Bursche
dort auf und nieder geht.

Er spielt mit seiner Flinte,
die funkelt im Sonnenrot,
er präsentiert und schultert -
ich wollt, er schösse mich tot.

Heinrich Heine
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Heckse am 12 März 2005, 14:46:48
Ernste Stunde

Wer jetzt weint irgendwo in der Welt,
ohne Grund weint in der Welt,
weint über mich.
Wer jetzt lacht irgendwo in der Nacht
ohne Grund lacht in der Nacht
lacht mich aus.
Wer jetzt geht irgendwo in der Welt,
ohne Grund geht in der Welt
geht zu mir.
Wer jetzt stirbt irgendwo in der Welt,
ohne Grund stirbt in der Welt:
sieht mich an.

Rainer Maria Rilke
(war das schon irgendwo?)
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Kallisti am 12 März 2005, 16:14:01
@Heckse


sehr, sehr, sehr schön... ... ...!!: das von Rilke, "Ernste Stunde"  - klar: is eben Rilke! Ich kannte es noch gar nicht. :)


Das von v. Hofmannsthal ("Ballade des äußeren Lebens") ist auch sehr gut, schön, treffend... - ach, ich finde dafür sowieso nie die richtigen Worte.
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: Purotin am 12 März 2005, 18:25:52
Die Knorkse von Knorks

Der große Knorks von Knorks
knorkst auf seiner Knorkse:
KNORKS!

Und schon knorksen alle Knorkse
in ganz Knorks auf ihren Knorksen:
KNORKS! KNORKS! KNORKS!

Wenn aber der große Knorks
auf seiner Knorkse nicht knorkst,
knorksen die anderen Knorkse
in ganz Knorks auf ihren Knorksen
keinen Knorks

Gottfried Herold
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: toxic_garden am 12 März 2005, 19:04:10
Zitat von: "Purotin"
Die Knorkse von Knorks

Der große Knorks von Knorks
knorkst auf seiner Knorkse:
KNORKS!

weise Worte, mein Guter. Weise Worte....(http://www.mainzelahr.de/smile/traurig/gruebel.gif)
Titel: Lyrik / Poesie bekannter Autoren
Beitrag von: ... am 26 April 2005, 18:33:40
oje, das ist so ein thread, den ich nur so vollstopfen könnte, und ich gar nicht wüsste, womit ich beginnen sollte, weil ich, wenn ich dieses oder jenes gedicht poste, immer denke, dass dann dieses oder jene auch rein müsste. ich versuche allerdings mal einen anfang mit einem gedich von m. houellebecq zu machen, meinem ...ähm ... drittliebsten schriftsteller (nach thomas bernhard und samuel beckett) und ... einem meiner liebsten "poeten" ...

Das Ende der alten Ordnung

1
Wir leben heute in einer ganz neuen Ordnung,
Und die Verflechtung der Umstände umhüllt unsere Körper,
Umströmt unsere Körper
Mit einem Strahlenkranz der Freude.

Was die Menschen früherer Zeitalter manchmal in ihrer Musik erahnten,
Verwirklichen wir jeden Tag in der praktischen Realität.
Was für sie dem Reich des Unerreichbaren und des Absoluten angehörte,
Betrachten wir als etwas ganz Einfaches, Wohlbekanntes.
Und dennoch verachten wir diese Menschen nicht;
Wir wissen, was wir ihren Träumen verdanken;
Wir wissen, dass wir nichts wären ohne die Verflechtung von
Schmerz und Freude, die ihre Geschichte ausgemacht hat;
Wir wissen, dass sie unser Bild in sich trugen, als sie Hass und Angst durchquerten, sich im Dunkeln stiessen,
Als sie nach und nach ihre Geschichte schrieben.
Wir wissen, dass es sie nicht gegeben hätte, dass es sie nicht einmal
Hätte geben können, ohne diese Hoffnung tief in ihrem Innern,
Sie hätten nicht einmal ohne ihren Traum leben können.

Jetzt, da wir im Licht leben,
Jetzt, da wir in unmittelbarer Nähe des Lichts leben
Und das Licht unsere Körper umströmt, unsere Körper umhüllt,
Mit einem Strahlenkranz der Freude,
Jetzt, da wir uns in unmittelbarer Nähe des Flusses niedergelassen haben,
An unerschöpflichen Nachmittagen,
Jetzt, da das Licht um unseren Körpern greifbar geworden ist,
Jetzt, da wir am Ziel angelangt sind
Und die Welt der Trennung überwunden haben,
Die gedankliche Welt der Trennung,
Und uns in der reglosen, fruchtbaren Freude
Eines neuen Gesetzes treiben lassen,
Können wir uns heute,
zum ersten Mal,
Das Ende der alten Ordnung
vergegenwärtigen.

2
Manche sagen:
"Die Zivilisation, die wir aufgebaut haben, ist noch anfällig,
Wir haben gerade erst die Nacht hinter uns gelassen.
Wir tragen noch das feindselige Bild dieser Jahunderte des Unglücks
In uns. Wäre es nicht besser, wenn all das verborgen bliebe?"

Der Erzähler steht auf, sammelt sich und erinnert daran,
Unerschütterlich, aber entschlossen steht er auf
Und erinnert daran, dass eine metaphysische Revolution stattgefunden hat.

Wie die Christen sich die früheren Zivilisationen vorstellen und sich ein
Umfassendes Bild der früheren Zivilisationen machen konnten, ohne sich
In Frage zu stellen und ohne an sich zu zweifeln,
Denn sie hatten ein Stadium,
Eine Stufe,
Eine Grenzlinie überschritten,

Wie die Menschen des materialistischen Zeitalters den christlichen rituellen Zeremonien beiwohnen konnten, ohne diese wirklich zu verstehen oder wirklich zu sehen, und die Bücher, die ihre ehemalige christliche Kultur hervorgebracht hatte,
Lesen und immer wieder lesen konnten,
Ohne sich von einer quasi anthropologischen Sichtweise zu befreien,
Unfähig, jene Auseinandersetzungen zu begreifen, die ihre Vorfahren
Um das Zusammenspiel von Sünde und Gnade bewegt hatte,

So können auch wir uns heute die Geschichte der materialistischen Ära
Als eine alte menschliche Geschichte anhören.
Es ist eine traurige Geschichte, und dennoch wird sie uns nicht wirklich traurig stimmen, denn wir gleichen nicht mehr diesen Menschen.
Hervorgegangen aus ihrem Fleisch und aus ihren Begierden, haben wir
Ihre Kategorien und ihre Zugehörigkeiten verworfen.

Wir kennen nicht ihre Freudem, kennen auch nicht mehr ihr Leid,
Gleichgültig
Und völlig mühelos
Haben wir ihre Welt des Todes zurückgewiesen.

Heute können wir jene Jahunderte des Schmerzes,
Die unser Erbe sind, der Vergessenheit entreissen,
Es hat etwas wie eine zweite Teilung stattgefunden,
Und wir haben das Recht, unser Leben zu führen.