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Schwarzes Hamburg => Archiv => Gedankenaustausch -Archiv- => Thema gestartet von: Laetitia am 13 September 2004, 14:45:12

Titel: Selektiver Glaube oder "Beten in der Not"
Beitrag von: Laetitia am 13 September 2004, 14:45:12
So, in Bezug zum thread "Tränen am Ground-Zero" mache ich hier mal einen neuen thread auf, der zur Klärung der Frage dienen soll, warum ein Atheist oder Nicht-Christ angesichts eines "schrecklichen Ereignisses" anfängt zu beten. Ich zitiere folgendes aus dem oben genannten thread:

Drachenkind: "ich glaub ich hab gebetet, obwohl ich Atheist bin."

KainsRache: "Und ja - auch ich als Nicht-Christ habe gebetet."

Die Frage richtet sich natürlich an die hier zitierten, doch auch weitere Meinungen zur Klärung dieses Paradoxums würde ich gerne hören.
Titel: Selektiver Glaube oder "Beten in der Not"
Beitrag von: KainsRache am 13 September 2004, 14:50:58
Nun, meinerseits ist diese Aussage sehr schnell erklärt: Es soll - neben dem Christen- oder Judentum - noch andere Religionen geben, in denen gebetet wird.
Ich fühle mich nicht zwingend einer genau definierten Religion zugehörig; Wenn überhaupt, dann einigen alten Naturreligionen. In diesen wurde gebetet, sei es weil der Wunsch an die Götter weitergetragen wurde, eine Seele ins Jenseits aufzunehmen (oder wie auch immer das damals in diesen Reilgionen ablief), oder sei es eine Bitte um Beistand und Schutz. Das ist schon ein wesentlich älterer Brauch als das Beten des Christentums, dementsprechend kann ich mich mit dem "selektiven Glauben", den Du ansprachst, auch nicht identifizieren.
Titel: Selektiver Glaube oder "Beten in der Not"
Beitrag von: Bombe am 13 September 2004, 14:51:59
Ich bin auch Atheist, aber manchmal kann ich es nicht verhindern, dass ich mir "Oh Herr, lass Hirn vom Himmel fallen, und vergiss nicht wieder Person und Person"… (die genannten Personen sind rein exemplarische). Zählt das auch als Beten? :)
Titel: Selektiver Glaube oder "Beten in der Not"
Beitrag von: Jinx am 13 September 2004, 14:53:32
@Laetitia: ich bete nie und habe es zu dem Zeitpunkt auch nicht angefangen. Gute Frage, allerdings.

Ich könnte mir vorstellen, dass so etwas passiert, wenn Menschen sich einer bisher unvorstellbaren Situation gegenübersehen. So denke ich, dass das Beten nicht angefangen hat, als zunächst über den Aufprall des ersten Flugzeugs berichtet wurde, der ja zunächst als Unglücksfall galt, sondern erst, als klar wurde, dass es sich um einen Anschlag handelte. Da wurden ja nicht nur ein paar Tausend Menschen vernichtet, sondern auch ein Symbol, sozusagen im Zentrum der (westlichen) Macht.
Diese Reaktion geht wohl mit dem Gefühl einher, dass alles, was man für sicher hielt, den Bach runtergeht, eine Erschütterung der Fundamente sozusagen, bei der die bisher gültigen Auffassungen (Atheismus in diesem Fall) mit in Frage gestellt werden.
Titel: Selektiver Glaube oder "Beten in der Not"
Beitrag von: sober am 13 September 2004, 14:54:20
ich frage mich an wen man sein gebet richtet wenn man nicht an gott glaubt.
Titel: Selektiver Glaube oder "Beten in der Not"
Beitrag von: KainsRache am 13 September 2004, 14:55:19
Sofern dieser Mensch an keinen Gott / keine Götter glaubt definitiv eine gute Frage.
Titel: Selektiver Glaube oder "Beten in der Not"
Beitrag von: phaylon am 13 September 2004, 15:01:54
Mich würde mal das überirdische Weltbild von Atheisten, die plötzlich zu beten anfangen, interessieren.

Ich meine, da kracht das Phallussymbol der gesamten Vereinigten Staaten zusammen, und die Leute fangen an, an Gott zu glauben? KR hat zwar insofern Recht, dass es auch andere Religionen gibt, in welchen gebetet wird, jedoch schätze ich (aufgrund eines Mangels an statistischem Material), dass die meisten wohl eher den christlichen Gott gemeint haben.

Warum wird man gläubig, wenn Schlechtes passiert? Vor allem wenn Gott im Sequel (Neues Testament) ja wohl eher der fröhliche Papa-Typ ist? Wieviele der Atheisten die zu beten begonnen haben, können wohl (sinnvoll) erklären, warum? 50%? 40? 30?

Was ist also der Grund? Ich werfe mal in den Raum, dass viele davon, einfach »Mitläufer« sind. Früher war es Hip Atheist zu sein, voll ohne Gott und voll selbstständig. Jetzt beten alle wie aus dem Kanonenrohr, da will man natürlich ganz hip sein, und zeigen, wieviel man trauert, dass man sogar als Atheist zu beten beginnt.


p
Titel: Selektiver Glaube oder "Beten in der Not"
Beitrag von: Drachenkind am 13 September 2004, 15:28:35
Ach der Club der Zyniker und Hobby Psychologen die das "true" erfunden haben.

Ich weiß, ihr wart in dem Moment als ihr live gesehen habt wie die Türme zusammen brachen völlig Cool, hattet eure Analysen fertig, hattet mit so einem Ereingis natürlich gerechnet, alles ins Weltbild eingebaut, konntet alle Entwicklungen schon absehen, wart' beeindruckt, aber nicht ergriffen.
Glückwunsch!

Vielleicht ist es einfach nur so, das wenn man sieht wie tausende sterben
und man hilflos vor der Glotze steht man nicht völlig rational ist.
'Tschuldigung, ihr natürlich.
Titel: Selektiver Glaube oder "Beten in der Not"
Beitrag von: sober am 13 September 2004, 15:30:40
thema verfehlt, setzen, 6 ;)
hier geht es nicht, wie wer reagiert hat auf was wie und wo, dafuer gibt es die anderen beiden tollen threads, sondern darum, wieso ein nicht gläubiger mensch plötzlich beginnt zu beten, dem warum, den folgen, dem späteren leben etc pp.


Hooray, for auch mal offtopic schei!
Titel: Selektiver Glaube oder "Beten in der Not"
Beitrag von: Jinx am 13 September 2004, 15:33:24
Zitat
Ich weiß, ihr wart in dem Moment als ihr live gesehen habt wie die Türme zusammen brachen völlig Cool, hattet eure Analysen fertig, hattet mit so einem Ereingis natürlich gerechnet, alles ins Weltbild eingebaut, konntet alle Entwicklungen schon absehen, wart' beeindruckt, aber nicht ergriffen.
Glückwunsch!

Vielleicht ist es einfach nur so, das wenn man sieht wie tausende sterben
und man hilflos vor der Glotze steht man nicht völlig rational ist.
'Tschuldigung, ihr natürlich.


Ich war nicht cool, ich war entsetzt. Ich habe nur nicht gebetet, das wird ja wohl erlaubt sein, oder?
Titel: Selektiver Glaube oder "Beten in der Not"
Beitrag von: Drachenkind am 13 September 2004, 15:34:50
@Sober
Letzten Absatz nochmal lesen.
Für den cool lockeren Spruch geb ich dir glatt 10 Punkte.
Titel: Selektiver Glaube oder "Beten in der Not"
Beitrag von: phaylon am 13 September 2004, 15:35:01
@Drachenkind:

Ja, ich war eigentlich schon völlig »cool«. Ich hab ne halbe Stunde später schon über die Sache im Netz diskutiert und mir da noch viel mehr Feinde gemacht.

Eigentlich sass ich in einem Büro, als es passierte. Und als es vorbei war, haben wir angestossen. Nicht auf die Opfer, nicht auf die Täter, sondern einfach, weil sich ein paar Dinge ändern.

Um beim Thema zu bleiben: Irgendwie ist mir »Gott« zu keinem Zeitpunkt irgendwie eingefallen.


p
Titel: Selektiver Glaube oder "Beten in der Not"
Beitrag von: sober am 13 September 2004, 15:37:50
ich hab im chat gelesen, dass ein flugzeug ins WTC gefolgen is, und hab mit "Jaja, du mich auch" reagiert.
Hab dann glotze angemacht, und nicht schlecht geguckt. bin dann erstmal tanken gefahren, man weiss ja nie.
Titel: Selektiver Glaube oder "Beten in der Not"
Beitrag von: Drachenkind am 13 September 2004, 15:37:51
Ich geh kotzen.
Titel: Selektiver Glaube oder "Beten in der Not"
Beitrag von: phaylon am 13 September 2004, 15:44:21
Hab Spass dabei.


p
Titel: Selektiver Glaube oder "Beten in der Not"
Beitrag von: Laetitia am 13 September 2004, 15:47:53
Zitat von: "Drachenkind"
Ich geh kotzen.


Meine Frage war durchaus ernst gemeint und diente nicht der Proklamation von "true" oder "untrue". Aber bitte, wir können auch auf deinem Niveau weitermachen:

Ich empfehl dir beten statt kotzen, das schadet der Speiseröhre nicht ;-) *scnr*
Titel: Selektiver Glaube oder "Beten in der Not"
Beitrag von: Daelach am 13 September 2004, 15:54:51
Heilsa!

Aber beten, zu wem auch immer - wozu? Was sollte das bringen? Die, die drin waren, hatten ohnehin keine Chance mehr. Die, die das Glück hatten, nicht drin zu sein, waren ohnehin schon in Sicherheit.

Mal abgesehen davon, daß der Gedanke, zu einem angeblich allmächtigen und allwissenden Jahve zu beten, im höchsten Maße unsinnig wäre - denn laut Bibel fällt kein Spatz vom Himmel, ohne daß "der Herr"(tm) es will. Also ja wohl erst recht keine Flugzeuge. Selbst Christen müßten wissen, daß Beten da Schwachsinn ist. Naja, wenn sie klar denken könnten, wären sie ja auch keine Christen, sondern bei gleicher Grundeinstellung noch am ehesten Humanisten.

hilsen.. Daelach
Titel: Selektiver Glaube oder "Beten in der Not"
Beitrag von: colourize am 13 September 2004, 15:57:28
Auch wenn ich persönlich das nicht wirklich nachvollziehen kann (vielleicht weil ich noch nie eine so tiefe Krisensituation erlebt habe..) - in Krisenphasen sind die Menschen immer religiöser; das scheint kulturell universal zu sein. Je schlechter es den Menschen geht, desto voller sind die Kirchen.

Und nicht nur das: Individuelle Kulte nehmen auch zu. Also der ganze Krams mit Kartenlegen, Runenwürfeln, magische Zaubersprüche dahermurmeln oder irgendwelche anderen Ritualpraktiken - all das zählt für mich genauso zur Religion. Und all das hat Hochkonjunktur, wenn die Zeiten schlechter werden.

In meinem rationalen Weltbild war noch niemals Platz für Gebete, Magie oder sonstigen Hokuspokus, weder als die Twin Towers eingestürzt sind, noch in Krisensituationen, die mich persönlich viel direkter betroffen gemacht haben. Aber vielleicht liegt das auch einfach daran, dass meine Schmerzgrenze offenbar etwas höher ist als bei vielen Anderen. Ich hab auch noch nie im Kino geheult. Geht einfach nicht.
Titel: Selektiver Glaube oder "Beten in der Not"
Beitrag von: phaylon am 13 September 2004, 16:09:14
Es liegt wohl auch zum Teil daran, wie die Menschen erzogen wurden. In Amerika ist die Kirche nunmal eine recht starke Institution. Eine jede Entscheidung gegen dieses ist damit ein »Schwimmen gegen den Strom«. Wenn die Entscheidung, dies zu tun, auf etwas wackeligem Fuss entstanden ist, kann ein »Rückfall« ins Christentum leicht passieren.

Ich würde allerdings nicht jede Ritualpraktik als Religion sehen, da diese nicht alle auf Glauben basieren, sondern auch andere Hintergründe haben können. Aber die Heilslehren sind natürlicherweise erster Anlaufpunkt für Sinnsuchende, die selbst am wenigsten Mühe damit haben wollen.


p

Edit: Tippfehler.
Titel: Selektiver Glaube oder "Beten in der Not"
Beitrag von: kb am 13 September 2004, 16:17:38
Gebetet hab ich auch nie wirklich, aber auch ich hab das im Büro im Fernsehen gesehen (manchmal hat Konsolenspiele entwickeln seine Vorteile) und den Atem angehalten. Allerdings war es keine Trauer sondern eher angesteckte Fassungs- und Hilflosigkeit sowie eine gute Portion Angst - Angst, die mich überrollte, als ich anfing nachzudenken, was dieser Tag wohl für die Weltgeschichte bedeuten würde. Angst davor, was noch alles von seiten der Terroristen kommen und wie unangenehm der Rachefeldug der USA werden wird.

Aber Gott da mit reinzuziehen? Nein. Ich seh mich selbst eher als Agnostiker denn als Atheist (ich persönlich glaube nicht an einen Gott, aber ich kann seine/ihre Nichtexistenz genausowenig beweisen wie Gläubige seine/ihre Existenz), und außerdem - sollte es diesen Gott geben, so hat er gerade je nach Glaubensrichtung irgendwas zwischen "zugesehen, wie" und "bewirkt, dass" diverse tausend Menschen ihr Leben lassen mußten und die Welt in ein politisches Chaos gestürzt wird, wie es es seit über 50 Jahren nicht mehr gab. Warum zur Hölle sollte ich genau dann zu beten anfangen? "Oh nein, es gibt doch einen Gott und er will uns warnen" wäre doch die wirklich einzige Begründung dafür - und dafür war ich mir dann doch etwas zu schade.

Ansonsten stimme ich Phaylon zu: Aber die Heilslehren sind natürlicherweise erster Anlaufpunkt für Sinnsuchende, sie selbst am wenigsten Mühe damit haben wollen.