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Gier und Kapitalismus

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Der Uhu:
Wollte mal drei Fragen zur Diskussion stellen:

1. Welche Aussage stimmt: "Der Kapitalismus hat die Gier erfunden" oder "Die Gier hat den Kapitalismus erfunden"?

Oder anders formuliert: Sind die Menschen durch das System auf Gier konditioniert oder ist Gier eine menschliche Eigenschaft und der Mensch schafft sein Umfeld danach?

2. Wie denkt ihr über Gier? Ist sie eher zerstörerisch oder treibende Kraft?

3. Ist die Gier der Menschen heute tatsächlich größer als früher oder sind nur die Instrumente der Ausbeutung größer und mächtiger geworden?

Zugrunde liegt hier eine Diskussion, die ich neulich hatte, und da wollte ich nur mal hören, wie die schwarze Allgemeinheit darüber denkt. Die Fragestellung ist natürlich relativ simpel, aber vielleicht ergibt sich daraus ja eine Diskussion über das Thema. Schließlich sind die Ökonomien der Welt gerade sehr damit beschäftigt, sich gegenseitig zugrunde zu richten, und der Grund hiefür ist unter anderem natürlich die allgegenwärtige Gier, was es notwendig erscheinen läßt darüber zu reden.

Der Uhu

colourize:
Huh, komplexes Thema - und vielleicht sogar ähnlich kompliziert zu beantworten wie die Frage nach Henne oder Ei. Trotzdem ein paar Denkanstöße:

Es gibt eine soziologische Schule, die "Rational Choice" genannt wird. In dieser Denkrichtung ist die "Gier" des Menschen gewissermaßen Axiom. "Der Mensch ist ein Eigennutzmaximierer", behauptet Rational Choice: Jeder Einzelne versucht, für sich selbst das beste herauszuholen.
In der Rational-Choice-Denke ist dieses Streben nach (Eigen-)Nutzenmaximierung (das man evt. als "Gier" übersetzen könnte) universell und vollkommen unabhängig vom Kapitalismus.

Während die Rational Choice Schule vergleichsweise jung ist, hat bereits vor 100 Jahren ein anderer Soziologe nach der Entstehungsursache des Kapitalismus geforscht: Max Weber.
Max Weber hat gleich zwei Erklärungsansätze dafür geliefert, warum in westlichen Gesellschaften der Kapitalismus entstanden ist - und nicht etwa in Indonesien, China oder Afrika.

Der erste Erklärungsansatz von Weber fußt auf der territorialen Kleinstaaterei in Mitteleuropa: Durch die Konkurrenzsituation, in der die Kleinstaaten im 15. bis 19. Jahrhundert zueinander standen, entwickelte sich gewisser Maßen ein Wettbewerb: Erfinder und Denker konnten von den Landesfürsten nicht kontrolliert werden, da sie jederzeit in einen Nachbarstaat ausweichen konnten.

Der zweite Erklärungsansatz von Weber ist der spannendere: In "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" führt Weber die Entstehung des Kapitalismus auf das diesseitsorientierte Weltbild der Protestanten zurück, nach der Gott den gottgefälligen Menschen schon im Diesseits ein gutes Leben beschert. Nach Weber führt dies zum Streben der Protestanten nach wirtschaftlichem Erfolg im Diesseits - im Gegensatz zu den Katholiken, die wenn es ihnen schlecht geht lieber mal nix tun, bestenfalls was beten, und auf ein besseres Leben im Jenseits warten.

Erwähnte ich schon, dass ich Katholik bin...?  :lol:

colourize:
Ach so, vielleicht noch ein Wort zu den anderen beiden Fragen, zur ersten Frage siehe mein Posting oben.


--- Zitat von: "Der Uhu" ---
2. Wie denkt ihr über Gier. Ist sie eher zerstörerisch oder treibende Kraft?

--- Ende Zitat ---

Ich denke, dass das Streben nach Eigennutzmaximierung eines einzelnen Menschen auf individueller Ebene als treibende Kraft wirkt.
Auf gesellschaftlicher Ebene führt dieses Streben allerdings zur Zerstörung der Solidarität und zur Erosion der Gesellschaft - das, was wir als "Ellenbogengesellschaft" bezeichnen.
In Folge dessen ist die "Gier" beides: Treibende Kraft UND zerstörerisch.


--- Zitat von: "Der Uhu" ---
3. Ist die Gier der Menschen heute tatsächlich größer als früher oder sind nur die Instrumente der Ausbeutung größer und mächtiger geworden?

--- Ende Zitat ---

Nicht die Gier (bzw. das Streben nach Eigennutzmaximierung) ist größer geworden, sondern der Kapitalismus hat an Bedeutung gewonnen.

Aus systemtheoretischer Sicht neigt die kapitalistische Logik zur Kolonisierung anderer Systeme, unserer gesamten Lebenswelten. Zur Zeit wird die Bildung kolonisiert: Bildung ist nicht mehr Selbstzweck, sondern wird nur noch unter dem Aspekt kapitalistischer Verwertbarkeit betrachtet. In diesem Sinne ist es etwa vollkommen legitim, kapitalistisch nicht "verwertbare" Disziplinen von den Universitäten zu entfernen. Gefördert wird nur, was sich aus kapitalistischer Sicht lohnt: Biochemie, BWL, Gentec, etc.
Ebenfalls kolonisiert wird unser zwischenmenschliches Dasein: Wir leben in einer Welt, in der Freundschaften und Beziehungen auf ihren Nutzen überprüft werden - von dieser Denke können wird uns kaum freimachen. Wer's nicht glaubt, lese Houellebecq's "Ausweitung der Kampfzone".
Schon lange kolonisiert ist unsere Freizeit: Ursprünglich als Gegenmoment zur kapitalistischen Arbeitswelt gedacht, ist unsere Freizeit heute von kapitalistischer Logik durchdrungen. Freizeitparks, Stadtfeste, Pauschalreisen und Massentourismus haben inzwischen eine "Freizeitindustrie" generiert, deren Funktionsweise man sogar auf der Uni studieren kann.

Das reicht erstmal an Beispielen, denke ich...  :roll:

Der Uhu:
Tja, will ich mal diesen Uraltthread aufwaermen! Aus aktuellem Anlass!

Anlass ist die von Muentefering angestossene Kapitalismusdiskussion. Ich will nicht diskutieren, warum und wieso und wieso ausgerechnet jetzt er diese Kritik geaeussert hat, oder ob man der SPD das so abnehmen kann. Aber ich wuerde gerne die von Colourize ins Spiel gebrachten Begriffe "Eigennutzmaximierung" und der "Kolonialisierung" des Kapitalismus unserer Lebensbereiche durch den Kapitalismus aufgreifen. Ich wuerde folgende Dinge gerne diskutieren:

- Wir kennen ja nun alle die Problematik des Finanzkapitalismus, in dem die Aktionaersinteressen und der Profit ueber allem anderen stehen, auch ueber den langfristgen Interessen der eigenen Unternehmung. Die Eigennutzmaximierung der Aktionaere ist somit gewahrt, aber was ist mit der Eigennutzmaximierung der anderen Gruppen (Belegschaft, Kunden, Staat etc.)? Es ist ja eigentlich kaum verstehbar, warum die Politik, den Finanzkapitalismus nicht eindaemmt oder sogar foerdert durch immer wieder neue Liberlisierungen und Steuergeschenke. In allen moeglichen Dingen ist es der internationalen Gemeinschaft gelungen, Allianzen zu schmieden. Aber hier versuchen sie es nicht einmal. Ist das nicht gegen ihre eigene Eigennutzmaximierung, wenn z.B. Grossbritannien oder die USA auf ihrem eigenen Territorium Steueroasen einrichten (Kanalinseln, Caymaninseln) oder Gewinne aus Aktiengeschaeften steuerfrei sind, waehrend jeder Buerger seine Einkuenfte versteuern muss? Wie ist das zu erklaeren und was muesste die internationale Gemeinschaft tun?

- Fuehlt ihr, dass die Gier anderer Menschen euren privaten Lebensbereich penetriert? Wo ist das besonders stark zu spueren?

Der Uhu

Thomas:

--- Zitat ---Es gibt eine soziologische Schule, die "Rational Choice" genannt wird. In dieser Denkrichtung ist die "Gier" des Menschen gewissermaßen Axiom. "Der Mensch ist ein Eigennutzmaximierer", behauptet Rational Choice: Jeder Einzelne versucht, für sich selbst das beste herauszuholen.
In der Rational-Choice-Denke ist dieses Streben nach (Eigen-)Nutzenmaximierung (das man evt. als "Gier" übersetzen könnte) universell und vollkommen unabhängig vom Kapitalismus.

--- Ende Zitat ---

Klingt für mich einleuchtend, entspricht auch meiner Meinung und erklärt gleichzeitig, warum der Kommunismus nicht funktionieren kann.


--- Zitat ---2. Wie denkt ihr über Gier? Ist sie eher zerstörerisch oder treibende Kraft?
--- Ende Zitat ---

Beides.Sie ist treibend und kann, wenn man die wahrnehmung verliert, zerstörerisch wirken.


--- Zitat ---3. Ist die Gier der Menschen heute tatsächlich größer als früher oder sind nur die Instrumente der Ausbeutung größer und mächtiger geworden?
--- Ende Zitat ---

Eher letzteres.Man kann heute die Gier wesentlich besser ausdehnen und optimieren als früher.

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