Talabani:
"Europa unterschätzt Terrorgefahr"
VON WIELAND SCHNEIDER UND CHRISTIAN ULTSCH (Die Presse) 17.11.2005
Exklusiv-Interview: Iraks Präsident Talabani wirft Europäern anti-amerikanische Verblendung vor.
Absage an Kurdenstaat: "Recht des kurdisches Volkes auf Unabhängigkeit derzeit nicht durchsetzbar."
Die Presse: Die Mehrheit der Europäer ist noch immer davon überzeugt, dass der Krieg gegen Saddam Hussein falsch war. Sind sie Weicheier oder haben sie Recht?
Jalal Talabani: Sie haben nicht Recht. Sie verstehen nicht, dass die Iraker unter einer der schlimmsten Diktaturen gelitten haben, die einen Krieg gegen das eigene Volk geführt hat. Sie müssen in den Irak kommen, um die Massengräber zu sehen, in denen 400.000 unschuldige Menschen von Saddam Husseins Schergen verscharrt worden sind. Auch die Österreicher und die Deutschen wären ohne Krieg nicht von Hitler befreit worden.
Hat es nach dem 11. September 2001 Pläne der USA gegeben, Saddam Hussein ohne Krieg zu beseitigen?
Talabani: Das wäre unmöglich gewesen. Das irakische Volk hat das jahrzehntelang in den Bergen Kurdistans und den Sümpfen des Südirak versucht, aber ohne Erfolg. Der Krieg war der einzige Weg, um Saddam von der Macht zu vertreiben.
Die wenigen europäischen Länder, die Truppen geschickt haben, wollen ihre Soldaten jetzt abziehen. Hätten Sie sich stärkere Unterstützung aus Europa gewünscht?
Talabani: Die Truppen sind nicht das Wichtige. Entscheidend ist: Die Europäer dürfen Irak nicht weiterhin durch ihre anti-amerikanische Brille betrachten. Sie müssen endlich erkennen, dass 27 Millionen Iraker befreit wurden und nach diesem Krieg nun Freiheit, Demokratie und Menschenrechte genießen.
Der Wiederaufbau des Nachkriegs-Irak ist keineswegs eine Erfolgsgeschichte. Es gibt in vielen Gegenden keinen Strom und kein Wasser. 26.000 Iraker sind bisher bei Terroranschlägen gestorben.
Talabani: Auch in Jordanien und Ägypten sterben Menschen bei Terroranschlägen, wie man zuletzt gesehen hat.
Aber nicht so viele.
Talabani: Dort nicht, aber in Algerien ist die Zahl der Terroropfer höher als im Irak. Irak ist jetzt das Hauptschlachtfeld im Kampf gegen den Terror. Deshalb konzentrieren Extremisten aus aller Welt ihre Kräfte auf unser Land. Sie sind in den Irak gekommen, um gegen unser Volk zu kämpfen. Diese Terrorgruppen sind keine Widerstandsbewegung. Sie kämpfen nicht gegen Soldaten, sondern führen einen Vernichtungskrieg gegen Frauen und Kinder. Sie zerstören Schulen, Moscheen und Kindergärten.
Aus welchen Ländern kommen die Terror-Kämpfer?
Talabani: Sie stammen aus allen arabischen Ländern. Wir haben mehrere hundert dieser Terroristen gefangen nehmen können. Sie kamen aus Ägypten, Syrien, Jordanien, Palästina, Marokko, Algerien Jemen, Saudiarabien.
Wie kann denn der Terror Ihrer Ansicht nach gestoppt werden?
Talabani: Nach den Parlamentswahlen am 15. Dezember wird die neue irakische Regierung einen umfassenden Plan erstellen, um das Problem zu lösen. Die Nachschubwege der Terroristen aus den Nachbarländern müssen endlich abgeschnitten werden.
Wie soll der umfassende Plan zur Terrorbekämpfung im Irak denn konkret aussehen?
Talabani: Wir brauchen einen Plan, der nicht nur auf militärische Aktivitäten stützt, sondern auch auf Medien, Wirtschaftsreformen und soziale Reformen. Wir müssen die Unterstützung der lokalen Bevölkerung in den Unruhegebieten gewinnen. Sie hassen die Terroristen und sind jetzt bereit, mit den irakischen Sicherheitskräften zu kooperieren.
Unterschätzt Europa die Bedrohung, die von diesen Terrorgruppen ausgeht?
Talabani: Ich fürchte, ja. Die Europäer vergessen die Gefährlichkeit dieser Gruppen, wenn sie nach Amerika blicken. Einige Menschen in Europa schauen blind auf die USA und vernachlässigen dabei alles andere. Das ist sehr gefährlich für Europa. Die Europäer verstoßen gegen ihre ureigensten Interessen, wenn sie gegenüber Extremisten eine Beschwichtigungspolitik betreibt.
US-Soldaten haben in einem Gebäude des Bagdader Innenministeriums ein Geheimgefängnis entdeckt. Die inhaftierten Rebellen wurden offenbar gefoltert. Ist das der neue Irak, für den Sie gekämpft haben?
Talabani: Nein. Wir sind gegen solche Methoden, und wir werden alle hart bestrafen, die diese Verbrechen verübt haben. Unsere Verfassung verbietet Folter, ebenso wie das Einsperren von Personen ohne richterlichen Haftbefehl.
Ihr ganzes politisches Leben lang haben Sie für die Unabhängigkeit Kurdistans gekämpft. Ist dieser Traum jetzt vorbei?
Talabani: Ich habe nicht für die kurdische Unabhängigkeit gekämpft, sondern für das Recht der Kurden auf Selbstbestimmung. Ich war hier immer realistisch und habe verstanden, dass Unabhängigkeit in dieser Zeit unmöglich ist. Unser Slogan lautete immer: Demokratie für Irak, Selbstbestimmung für Kurdistan. Und heute ist Irak demokratisch und föderal aufgebaut. Das kurdische Volk hat ein Recht auf Unabhängigkeit. Aber es ist unmöglich, dieses Recht durchzusetzen.
Das gilt aber nur für den Moment?
Talabani: Ich weiß nicht, was die Zukunft bringen wird. Aber stellen Sie sich einmal vor, das irakische Kurdistan erklärt seine Unabhängigkeit. Die Nachbarn würden sofort ihre Grenzen dicht machen. Wie könnten wir dann überleben? Alle Länder des Nahen Ostens sind gegen eine Unabhängigkeit Kurdistans. Wir können nicht gegen alle zugleich kämpfen.
Fühlen Sie sich solidarisch mit der türkischen PKK?
Talabani: Nein. Die PKK schadet dem kurdischen Volk. Sie kämpft mit terroristischen Methoden und zieht die nationale kurdische Befreiungsbewegung in den Schmutz. In der Türkei ist jetzt eine neue Ära angebrochen. Die Regierung erkennt erstmals die Existenz des kurdischen Volkes an. Sie hat versprochen, das Kurdenproblem auf demokratische Weise zu lösen. Der Krieg gegen die heutige Regierung in Ankara ist im Interesse jener, die nicht wollen, dass sich die Türkei demokratisch entwickelt.
Viele der Anschläge im Irak richten sich gegen die Schiiten. Die Terroristen versuchen offenbar, einen Bürgerkrieg zu entfesseln. Wie können die sunnitischen Araber wieder an Bord geholt werden?
Talabani: Die sunnitischen Araber haben bereits begonnen, sich wieder stärker einzubringen. Sie haben sich an der Ausarbeitung der Verfassung beteiligt. Nun bereiten sie sich darauf vor, an den kommenden Parlamentswahlen teilzunehmen. Bei den sunnitischen Arabern muss man verschiedene Gruppen unterscheiden. Gar nicht so wenige arbeiten mittlerweile im politischen Prozess mit.
Die Terroristen sind eine Minderheit. Aber sie versuchen mit allen Mitteln, einen Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Schiiten zu entfachen. Doch das wird ihnen nicht gelingen. Denn die Mehrheit der Schiiten und Sunniten wollen Iraks Einheit erhalten.
Präsident Bush wird von den Europäern harsch kritisiert. Was denken Sie über Präsident Bush?
Talabani: Die Kritiker haben Unrecht. Präsident Bush hat den Irak befreit. Das war sehr nobel. Er hat sich damit historische Verdienste erworben.
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