Hier ein totaler tldr für alle, die es immer noch nicht kapiert haben worum es eigentlich geht und warum der angebliche vorgeschobene Kinderschutz ein Riesenschritt in Richtung Überwachungsstaat ist:
Zitat
Kinderpornografie und Internet-Zensur
Hintergründe, Zusammenhänge, Denkanstöße
Christian Wöhrl, April 2009
Alle verwendeten Weblinks finden Sie auf Seite 4 auch im Volltext.
Auf den ersten Blick wirkt es wie eine ehrenwerte Aufgabe, der sich Ursula von der Leyen
verschrieben hat. An allen Fronten kämpft die Bundesfamilienministerin gegen Kinderpornografie:
gegen den sexuellen Missbrauch Schutzbedürftiger und gegen den Vertrieb solcher
Pornografie im Internet. Doch nähere Betrachtung ihrer Argumente und Handlungsansätze zeigt,
dass ihr eigentliches Ziel keineswegs die Bekämpfung von Kinderpornografie ist, ja nicht sein kann.
Worum aber geht es wirklich? Hier mein Versuch einer kurzen Zusammenfassung der geplanten
„Anti-Kinderporno“-Maßnahmen
1 sowie einer auch für technische Laien verständlichen Erklärung:
Die Familienministerin und ihre Mitstreiter legen ihrem Handeln die Annahme zugrunde, der
„WWW“ genannte Teilbereich des Internets (also all das, was mit einem Browser wie Internet
Explorer oder Firefox zugänglich ist) sei ein wesentlicher Distributionskanal für frei zugängliche
oder auch kommerzielle Kinderpornografie. Viel
spricht dafür, dass dies nicht so ist, dass also
Kinderpornografie nahezu ausschließlich außerhalb des WWW verbreitet wird und auch das nicht
im großen Stil gewerbsmäßig. Dennoch soll speziell für das WWW, zunächst nur bei großen
Internet-Zugangsanbietern, später bundesweit verbindlich, das Instrumentarium der „Stoppseite“
eingeführt werden, um nach den Vorstellungen von Frau von der Leyen die Verfügbarkeit kinderpornografischer
„Einstiegsdrogen“ zu erschweren. Die entsprechenden Verträge mit einigen der
größten Provider sind bereits unterschrieben. Eine Liste der kooperierenden Anbieter
gibt es hier.Wie funktioniert die Stoppseite?Wenn man im Browser wie gewohnt eine Internet-Adresse im Klartext aufruft, wird die Anfrage
zunächst an einen DNS-Server geschickt, der den Klarnamen (z.B.
http://cwoehrl.de) in die
zugehörige IP-Adresse (z.B. 80.67.17.71) auflöst und die Anfrage dorthin weiterleitet. Jeder
Internet-Anbieter hat seinen eigenen DNS-Server, und dadurch ist es ihm möglich, die
Weiterleitung zu bestimmten IP-Adressen oder -Bereichen (z.B. alles mit 123.456.xxx.xxx)
zu blockieren oder auf andere Seiten umzuleiten. Genau das passiert hier: In den DNS-Servern
der beteiligten Provider werden Listen hinterlegt, die regeln, welche IP-Anfragen auf eine
Stoppseite umgeleitet werden.
Und jetzt wird’s spannend:
Diese Listen sind geheim. Sie werden beim Bundeskriminalamt erstellt
und aktualisiert, vertraulich an die Provider weitergegeben, und diese haben sie umgehend und
ungeprüft in ihre Server einzupflegen.
Wer sich darüber informieren möchte, was auf diesen Listen
steht, der macht sich bereits strafbar. Nochmals: Wir reden vom BKA – dieselbe Behörde, die
gerade im Rahmen eines höchst umstrittenen Gesetzes mit weit reichenden Geheimdienstbefugnissen
ausgestattet wurde, soll hier Ermittler, Ankläger und Richter in Personalunion sein, und
1 die naturgemäß nicht brandaktuell sein kann – auf diesem Gebiet legt unsere sonst ja eher lethargische Große
Koalition ein Tempo vor wie frisch gedopt.demokratietypische Kontrollmechanismen sind nicht vorgesehen. Allein: „Das grenzenlose
Vertrauen ins BKA widerspricht dem Menschenverstand“, wie ZEIT-Verleger Michael Naumann in
der
Begründung seiner Verfassungsklage gegen das BKA-Gesetz schreibt.
Niemand darf wissen, was auf diesen Sperrlisten steht. Jeder von uns könnte also beim ziellosen
Internet-Surfen, beim Anklicken eines launigen Links in einer E-Mail, unbeabsichtigt auf einer
Stoppseite landen. Und nun sage niemand „na und“, denn die Perfidie geht weiter: Während Frau
von der Leyen bei ihrem Propagandafeldzug durch Redaktionen und Rundfunkanstalten bislang
darauf beharrte, dass zufällige Aufrufe nicht protokolliert würden, klingt das neuerdings aus dem
Justizministerium ganz anders. Dessen Pressesprecher Ulrich Staudigl erklärte jüngst gegenüber
heise online, dass sehr wohl eine Echtzeitprotokollierung des Datenverkehrs an den Stoppseiten
geplant sei und
jeder Nutzer, der eine solche Seite aufrufe, mit Strafverfolgung zu rechnen habe.Klartext: Sobald diese Vereinbarungen und Gesetze in Kraft sind, stehen wir alle beim ganz
normalen Surfen mit einem Bein im Gefängnis. Und Unschuldsvermutung hin oder her: Wenn Ihr
Nachbar aufschnappt, dass bei Ihnen eine Hausdurchsuchung wegen des Verdachts auf Konsum von
Kinderpornografie stattgefunden hat, können Sie vermutlich nur noch ganz weit wegziehen ...
Was man nicht sieht, das gibt es nicht. Oder doch?Und bei alledem sollte nicht vergessen werden: Die möglicherweise
2 zu Recht anstößige Webseite
ist zwar nicht mehr auf Anhieb sichtbar; sie ist aber nach wie vor online und kann von jedem
Interessierten problemlos aufgerufen werden. Ich habe das vor einigen Monaten
hier als den
Versuch beschrieben, einen Exhibitionisten im Stadtpark nicht etwa festzunehmen, sondern mit
einem Paravent zu umstellen.
Erfahrungen mit Sperrlisten in anderen Ländern zeigen zudem, dass auf solchen Listen längst nicht
nur kinderpornografische Websites zu finden sind.
Hier ist etwa eine auf verschlungenen Wegen
veröffentlichte skandinavische Liste verlinkt, die nur zu rund einem Prozent echte Kinderpornografie
umfassen soll, welche zudem mehrheitlich auf Servern in Europa und den USA liegt, wo man
sie problemlos binnen Minuten vom Netz nehmen könnte, statt sie bloß zu verhüllen.
Wohin der Hase läuft, zeigen auch
Forderungen diverser Politiker, solche Sperrseiten nicht nur
gegen Kinderpornografie, sondern beispielsweise auch gegen ausländische Glücksspielseiten
einzusetzen. Wir müssen also davon ausgehen: Sobald diese Infrastruktur existiert, wird sie gegen
die unterschiedlichsten missliebigen Dinge zum Einsatz kommen. Damit jedoch sind wir im
Bereich lupenreiner, keiner Kontrolle unterworfener Zensur, die allerdings laut Artikel 5 GG nur
unter allerstrengsten Vorbehalten zulässig ist.
Doch selbst wenn wir wider jeglichen Menschenverstand davon ausgehen wollen, dass diese
Filterlisten für die DNS-Server auf ewig tatsächlich nur kinderpornografische Websites umfassen
werden, so bleibt der Umstand, dass es jedem Computerbenutzer, der selbstständig ein Betriebssystem
nebst Browser starten kann, ein Leichtes ist, diese DNS-Sperren zu umgehen. Eine Anleitung
dazu gibt es unter anderem
hier – Zeitaufwand rund eine halbe Minute.
2 bedenken Sie, dass wir nicht das Recht haben, das zu prüfen.Und diese Möglichkeit sollten Sie nutzen. Nicht um Webseiten mit verbotenen Inhalten aufrufen zu
können – das wäre berechtigterweise strafbewehrt –, sondern um sich selbst vor dem Risiko zu
schützen, ungewollt eine Stoppseite aufzurufen und dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Aber worum geht es denn nun?Fassen wir zusammen: Als Sperren gegen Kinderpornografie sind DNS-Filter sinnlos. Es ist
wirklich so simpel. Wozu also sind sie gut?
Ich kann mir das nur so erklären, dass hier ein Klima erzeugt werden soll, in dem technische
Zensurmaßnahmen gegen das Internet gesellschaftlich weitestgehend akzeptabel erscheinen. Und
die für jeden Interessierten offensichtliche Sinnlosigkeit von DNS-Filtern sollten wir uns als
Nebelkerze vorstellen: Sie suggeriert, dass man
politisch nichts gegen die Filterung unternehmen
muss, weil sie so einfach
technisch zu umgehen ist. Im nächsten Schritt dann werden wir technisch
wirksame Zensur erleben, und wenn sich daraufhin Opposition regt, wird es heißen: Na und, letztes
Mal hat doch auch keiner gemeckert?
Wir müssen diese Maßnahmen in einem größeren Zusammenhang sehen: Die
Vorratsdaten -
speicherung, das BKA-Gesetz, die
Telecoms Packages auf EU-Ebene, die DNS-Sperren – all
das stellt unbescholtene Bürger unter Generalverdacht, erzeugt ein Klima der Angst und
beschneidet Freiheiten im Namen imaginärer Sicherheit. Nichts von alledem wird der Kinderpornografie
oder sonstiger Kriminalität das Wasser abgraben, aber kritischen Bürgern wird
dadurch vermittelt, dass sie besser den Mund halten sollten.
WWW, E-Mail, ftp und all die anderen Dienste, die zusammen das Internet ausmachen, sie
ermöglichen fraglos neue Dimensionen der Kriminalität, denen Strafverfolgungsbehörden adäquat
begegnen können müssen. Aber sie ermöglichen auch neue Dimensionen der unabhängigen
Information, der Vernetzung und der Meinungsbildung; sie sind im besten Sinne basisdemokratisch,
indem sie jeder neuen, unkonventionellen oder auch unbequemen Idee zunächst einmal dieselbe
Chance geben, sich in Windeseile im ganzen Land und darüber hinaus zu verbreiten. Und ich wage
zu behaupten: Wenn sie an die letztgenannten Möglichkeiten denkt, dann geht, verzeihen Sie mir
die Wortwahl, unserer derzeit herrschenden Klasse der Arsch auf Grundeis. Oder eleganter:
„Die utopischen Visionen des Netzes basieren, genau wie das Grundgesetz, auf einem Misstrauen
der Bürger gegenüber dem Staat. Die dystopischen dagegen auf einem Misstrauen des Staates
gegenüber den Bürgern. Welche Vision sich durchsetzen wird, ist noch nicht entschieden.“
In ihren Bemühungen, ihr Elfenbeintürmchen gegen unerwünschte Partizipation des Wahlvolks
abzuschotten, erhält die Politik überdies Schützenhilfe von Interessengruppen etwa aus der
Musik- und Filmindustrie, die sich von einer wirksamen Zensur-Infrastruktur Schutz für
ihre überkommenen Geschäftsmodelle erhoffen. Diese Zusammenhänge auszuführen würde
allerdings den Rahmen dieses Dokuments sprengen; Hintergrundinformationen zu diesem
Themenkomplex finden Sie beispielsweise bei
netzpolitik.org oder in
Cory Doctorows frei
verfügbarer Essaysammlung Content.
Und nun?Aufklärung tut Not. Informieren Sie Ihren Freundeskreis, was es mit der ach so nützlichen Internet-
Filterung auf sich hat und was auf dem Spiel steht: Wir dürfen nicht tatenlos zusehen, wie das
vielleicht wichtigste, sicherlich aber demokratischste Medium des 21. Jahrhunderts zu einem
schäbigen Outlet konsensfähiger Wischiwaschi-Meinungen heruntergewirtschaftet und jeder
Kritiker dieser Tendenzen pauschal kriminalisiert wird.
Auch politischer Gegenwind gegen solcherlei repressive Maßnahmen ist unumgänglich. Beispielsweise
können Sie
noch bis 16. Juni 09 hier eine entsprechende Petition mitzeichnen. Kontaktieren
Sie auch Ihre Wahlkreisabgeordneten und -kandidaten, fragen Sie sie nach ihrer Haltung zur Informations-
und Meinungsfreiheit. Möglicherweise werden Sie schon bei
Abgeordnetenwatch fündig;
auch dort können kritische Fragen gestellt werden. Geben Sie Ihren Kandidaten zu verstehen, dass
Sie nicht gewillt sind, Ihre bürgerlichen Freiheiten beschneiden zu lassen. Gehen Sie wählen, und
wählen Sie solche Personen und Parteien, die der Demokratie freundlich gesonnen sind.
Danke.
Autor: Christian Wöhrl, Hoisdorf
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Ursprungsdatei:
http://cwoehrl.de/files/netzzensur.pdf Letzte Bearbeitung: 07.05.09
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