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Gothic: Marke, Subkultur oder billige Bricolage

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Candide:
Ich möchte hier mal eine Diskussion wieder aufnehmen, die wir in einem anderen Thread schon hatten - dort schrieb ich:


--- Zitat ---wenn es bei einer Subkultur darum geht, eine "nicht-normale Szene" zu bilden, aber die Individualität höchster Wert sein soll, so wird als Gegenkultur zum (normalen) Kollektiv ein neues (nicht-normales!?!?) Kollektiv erbaut.

Wie ist die Differenz zwischen einer Hip-Hop Szene, den Grufties, und den "Normalos"? Die einzige Differenz (abgesehen von Musikstilen und Farben) besteht in ebenjener Zuschreibung, subkulturell, das heißt nicht Mainstream, zu sein. Und diese Zuschreibung ist meist eine Selbstzuschreibung. ("Alle sind Individueen, nur ich bin anders!"  )

Szenen sind Teilzeitvergemeinschaftungen als hochflexibles Role-Model des Kulturbetriebs. Die Deutsche Bank in Berlin lud zu einem Kultur-Abend unter dem Titel "Wir sind alle Subkultur"ein? Klar, albern und durchschaubar, aber die Aktion zeigt, daß in den Chefetagen und Management-Seminaren längst klar ist, wie wichtig Verszenung, "Networking" und Community-Building als zentrale Produktivkraft geworden sind.

Ziel ist - egal ob man T-Shirts mit gruftigen Bandlogos, Lackhosen, oder die Mercedes A-Klasse zur A-Motion-Tour verkaufen will - Produktion eines Wir-Gefühls unter den Teilnehmern, welches die Möglichkeit bietet, sich vom Ihr abzuheben. Szenen sind spätestens seid Ende der 70er für die meisten nur noch Markenwelten und Produkt-Images.

Ich persönlich halte daher nach 12 Jahren "Gothic" jede Form der Szenebildung zum Zwecke des Anders-Seins für einen Widerspruch in sich, aber vielleicht verstehe ich auch einfach nur was falsch.

Nix desto trotz: wenn Spaß bringt, ist's doch ok.  

(vgl: Gelder, K.; Thornton, S. (Hg.): The Subcultures Reader; London 1997; Thornton, S.: Club Cultures: Music, Media and Subcultural Capital; Cambridge 1995)
--- Ende Zitat ---


Ich sehe die Szene, und darin fühle ich mich gerade durch die Neofolk-Diskussion hier im Forum mehr und mehr bestärkt, "nur noch" als Bricolage längst hinfälliger Klischee-Bilder von Punk-Rock über S/M (na, sagen wir lieber Fetischismus) bis Heidenkult. Jeder geht in seinem Klischee - seinem Sub-Tribe/ seiner Clique und Ersatzfamilie - so gut auf, wie er nur kann, sucht sich je nach Gusto ein wenig Rohmaterial aus Fetisch, Weltschmerz, Theosophie, Ariosophie und/oder früherer Subkulturen, pinselt das schwarz an, und nennt es dann Gothic. Daraus wurde dann eine Marke gebaut, die sich mittlerweile prima verkauft, ein Individualitäts-Shop, in dem man es sich leicht machen kann, anders zu sein, ohne sich wirklich zu differenzieren.

Thesen, die ich darob erneut zur Diskussion stelle:

1. Es gibt keinen gemeinsamen Nenner in der Szene, der über die Farbe "Schwarz" hinausgeht.
2. Die "Szene" ist keine Subkultur mehr, sondern eine aus einer Subkultur entstandene Meta-Marke, die in erster Linie dem Verkauf dient.
3. Die Unterschiede zwischen der "Gothic-Szene" und der Gesamtgesellschaft  sowie anderen Jugendkulturen beschränken sich wie in Punkt 1 auf die Farbe der Kleidung.
4. Die schwarze Szene ist kein Subsystem der Klassenstruktur, sondern stellt sich klassenunabhängig als Auffangbecken für gelangweilte Wohlstandsgören bereit.
5. Identitätsfindung innerhalb des Kollektives "schwarze Szene" ist nicht möglich, da die Szene in ihren Grundzügen, insb. bezüglich ihrer Toleranzschwelle gegenüber sog. "Pseudos", faschistisch ist bzw. eher einer Sekte gleicht. Zusammengehörigkeit wird kulfhaft durch Äußerlichkeiten wie Kleidung und Musik inszeniert, alles ausserhalb dieser Sphäre mit hohlen Phrasen als "normal" und daher "dumm" abgetan.

Disclaimer: Die obigen Aussagen entsprechen nicht zwangsläufig meiner tatsächlichen Meinung über die Szene. Sie repräsentieren lediglich Gedanken, die man ob ihrer haben könnte, aber nicht muss, und dienen nur als Diskussionsgrundlage. Ich wiederhole, was ich schon diverse Male betont habe: ich mag die Szene, und sehe mich in gewisser Nähe zu ihr, aber denke, das ihr die kritische Selbstreflektion abhanden gekommen ist, daher werfe ich diese bewußt völlig überspitzten Aussagen in den Raum.

Bombe:

--- Zitat von: "Candide" ---4. Die schwarze Szene ist kein Subsystem der Klassenstruktur, sondern stellt sich klassenunabhängig als Auffangbecken für gelangweilte Wohlstandsgören bereit.

--- Ende Zitat ---

Ich würde hier gerne noch „von der normalen Gesellschaft Ausgestoßenen“ sowie „geistig Gestörte“ hinzufügen.

Candide:

--- Zitat von: "Bombe" ---
--- Zitat von: "Candide" ---4. Die schwarze Szene ist kein Subsystem der Klassenstruktur, sondern stellt sich klassenunabhängig als Auffangbecken für gelangweilte Wohlstandsgören bereit.

--- Ende Zitat ---

Ich würde hier gerne noch „von der normalen Gesellschaft Ausgestoßenen“ sowie „geistig Gestörte“ hinzufügen.
--- Ende Zitat ---


Sagen wir eher "Leute, die sich für ausgestoßen oder gestört halten bzw. gerne damit kokettieren".

Bombe:
Oh ja, die hatte ich noch vergessen.

Eisbär:

--- Zitat von: "Candide" ---
Thesen, die ich darob erneut zur Diskussion stelle:

1. Es gibt keinen gemeinsamen Nenner in der Szene, der über die Farbe "Schwarz" hinausgeht.
2. Die "Szene" ist keine Subkultur mehr, sondern eine aus einer Subkultur entstandene Meta-Marke, die in erster Linie dem Verkauf dient.
3. Die Unterschiede zwischen der "Gothic-Szene" und der Gesamtgesellschaft  sowie anderen Jugendkulturen beschränken sich wie in Punkt 1 auf die Farbe der Kleidung.
4. Die schwarze Szene ist kein Subsystem der Klassenstruktur, sondern stellt sich klassenunabhängig als Auffangbecken für gelangweilte Wohlstandsgören bereit.
5. Identitätsfindung innerhalb des Kollektives "schwarze Szene" ist nicht möglich, da die Szene in ihren Grundzügen, insb. bezüglich ihrer Toleranzschwelle gegenüber sog. "Pseudos", faschistisch ist bzw. eher einer Sekte gleicht. Zusammengehörigkeit wird kulfhaft durch Äußerlichkeiten wie Kleidung und Musik inszeniert, alles ausserhalb dieser Sphäre mit hohlen Phrasen als "normal" und daher "dumm" abgetan.
--- Ende Zitat ---
Bevor ich antworte, frage ich lieber nochmal nach ein paar Details...

zu 1+2: Wenn die Szene mal eine Subkultur war, wo war dann außer im Schwarz die Gemeinsamkeit?
zu 2: Dem Verkauf von was? Heute werden ja mit dem Produkten auch Images verkauft. Welche siehst Du da?
zu 3: Wenn sich aber alle so sehr Mühe geben, anders sein zu wollen, wie kann es sein, daß das nicht klappt? Paßt sich etwa die Gesellschaft der ehemaligen Subkultur an (manchmal habe ich echt den Eindruck)?
zu 4: "Klassenunabhängig" und "Wohlstandsgören" ist ein Widerspruch in sich. Kannst Du das ganze anders formulieren? Die Szene/Marke rekrutiert m.E. ihre Mitglieder aus allen sozialen Schichten, auffällig war mal der erhöhte Anteil an (Pseudo-)Intellektuellen, bzw. (angehenden) Akademikern.
Die Szene/Marke Hiphop z.B. hat ihr "Hauptrekrutierungsfeld" eher in den unteren Bevölkerungsschichten und an den Hauptschulen...
zu 5: Klingt ein wenig überspitzt, aber mir fällt spontan nicht viel dagegen ein (leider).
Vielleicht, wenn ich ein wenig drüber nachdenke...
Eine Kleinigkeit vielleicht: Bei 5 Mio BILD-Lesern täglich kann schon davon gesprochen werden, daß BILD-lesen "normal" ist... Darf ich es trotzdem als nicht unbedingt intellektuell betrachten?

Grüße
Lars

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