Schwarzes Hamburg > Kunst und Kultur
Geschichten, die das Leben schrieb
RaoulDuke:
Nachtfahrt
Von grellen Scheinwerfer beleuchtet fliegt die Kurve auf mich zu. Kupplung ziehen, Click-Clack, dritter Gang, die Drehzahl liegt bei 6.000, ich lege mich tief hinein und sehe den Mittelstreifen unter mir entlang ziehen. Kurvenausgang, der Motor faucht. 7000. 8000. Ein knurrendes Brummen zieht mich nach vorn, hinein in die stockfinstere Nacht.
Es kommt mir vor, als sei ich schon seit Stunden unterwegs, auf dieser Strecke, in der ich jeden Winkel kenne, jede Gerade, jede Kurve, jedes auf und ab. Ich war schon sehr oft hier, es sind wohl Jahrzehnte. Und immer wenn ich hier bin, dann merke ich, dass es auch eine Strecke der Geschichten für mich ist, untrennbar mit mir verbunden und ein Teil von mir geworden. Vor mehr als einem Jahrzehnt bin ich hier auch gefahren, in einem dunkelroten Volvo, auch in einer stockfinsteren Mittwochnacht, genau wie heute. Ich war vorher in einem der leeren Clubs, die in der Woche nur von Leuten angesteuert werden, die hungrig sind nach irgendwas, manchmal wissen sie selbst nicht ganz genau, was. Es passieren die verrücktesten Dinge an solchen Mittwochabenden.
Eine langezogene Rechtskurve. Damals im Club stand ich vor einem Plakat von irgendeinem Konzert, als plötzlich ein Mädchen neben mir stand und fragte "Kaufst Du mir einen Drink?" Ich fand das so atemberaubend dreist, dass ich konterte "Klar, aber nicht hier. Wie wäre es mit einem anderen Club?" Ich schlug eine Disco bestimmt 50 Kilometer entfernt vor. Das Mädchen grinste und meinte "klar!" - in dem Moment gesellte sich eine Freundin von ihr dazu. Beide wirkten sehr jung, und ich kannte noch nicht einmal ihre Namen, als der dunkelrote Volvo vom Club zu seiner Reise über die nächtliche Landstraße aufbrach. Wir unterhielten uns, und es war total entspannt, als ich es mir nicht verkneifen konnte, ein finsteres Lächeln aufzusetzen und plötzlich wie beiläufig zu sagen "Wisst Ihr, dass es eigentlich total leichtsinnig ist, zu jemandem, den ihr noch nie gesehen habt, ins Auto zu steigen und durch's Nirgendwo zu fahren?" Die Freundin der Unbekannten wurde leichenblass, atmete plötzlich heftig und tief ein und schluckte. Die Unbekannte hingegen sah mich vom Beifahrersitz aus an - und lachte dreckig. In der Sekunde wusste ich, dass wir Freunde werden würden. Das taten wir auch, und mein Leben wäre ohne die beiden an entscheidenden Stellen anders verlaufen. Ich lache unter dem Helm auch leise dreckig.
Plötzlich eine Rechts-Links-Kombination. Bremse, Kupplung, Click-Clack, ich spüre, dass die schwere Maschine der abrupten Richtungsänderung nur widerwillig folgt. Ich zwinge ihr meinen Willen auf. Kupplung, Click-Clack. Es ist wie das Laden einer Waffe. Ich weiss es noch wie gestern - der Schlitten der schweren Pistole gleitet nach hinten. Click-Clack. Ich lasse ihn los. Die Waffe liegt schwer und kalt in meiner Hand. Als ich sie hebe, höre ich die Stimme von meinem Großvater sagen "Halt! Du darfst den Finger erst an den Abzug legen, wenn Du wirklich schießen willst!" Aber das war schon Jahre, bevor ich die Waffe hob. Ich richtete sie auf eine große, rostige Metalltonne. Legte den Finger an den Abzug. Und drückte ab. Es knallte enorm laut, ich erschrak mich über den Rückstoß, aber es war nichts passiert. Halt moment, doch. Durch ein kleines Loch in der Tonne schien Licht. Ob die Tonne noch da ist, nach all den Jahren?
Ich kann es nicht sehen, denn mich umgibt rabenschwarze Nacht, nur der helle Scheinwerfer meines Motorrades beleuchtet die endlose Straße, die unter mir dahinrast. Ich gebe Gas, und mit einem Grollen, das ansetzt, ein wütendes Brüllen zu werden, reisst mich die Maschine hinein, immer tiefer hinein in die Nacht und ihre Geschichten. Ich wünschte mir, ich könnte mit ihr verschmelzen.
Black Ronin:
Ö.Ö
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