Schwarzes Hamburg > Politik und Gesellschaft
Marktwirtschaft vs. demokratischer Mumpitz
colourize:
--- Zitat von: Kenaz am 08 April 2013, 23:23:26 ---Kurz noch zum Artikel: Ich finde es in allerhöchstem Maße bezeichnend und alarmierend, dass im gesellschaftspolitischen Diskurs ökonomische und materielle Interessen mittlerweile allen Ernstes als Beurteilungskriterien für moralische Werte und ethisch begründete Strukturen herangezogen werden. Man ist zwar gegen "Nazis", den sich immer radikaler ausbreitenden Wirtschaftsfaschismus findet man hingegen nicht so schlimm bzw. nimmt ihn noch nicht einmal wahr. Ich meine, hallo?! Sind demokratische Strukturen nur dann erstrebenswert, wenn auch das Bruttosozialprodukt hübsch nach oben geht?
--- Ende Zitat ---
Das Primat der Ökonomie finde ich nun nicht so wahnsinnig neu. Btw. wurde auch immer versucht, die "Demokratie" zu exportieren indem man für dieses System mit Wirtschaftswachstum geworben hat. "Führt demokratische Strukturen bei Euch ein, dann werden die Unternehmen schon kommen und bei Euch investieren" ist ein Versprechen, das nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wenige Staaten zu (zum Teil: pseudo)demokratischen Reformen bewegt hat. Ich denke da etwa an Spanien, Portugal oder Griechenland sowie etliche lateinamerikanische Staaten. Auch in vielen afrikanischen Staaten wurden die Dikataturen aus diesem Grund abgeschafft oder zumindest durch parlamentarische Wasserköpfe getarnt, was dem Westen im allgemeinen ausgereicht hat um Hermesbürgschaften für diese Staaten zu übernehmen.
--- Zitat von: Kenaz am 08 April 2013, 23:23:26 ---Kann umgekehrt ein Schrumpfen desselben allen Ernstes als Argument gegen die Demokratie ins Feld geführt werden?? WAS hat das eine mit dem anderen zu tun?! Es existiert keinerlei Begründungszusammenhang zwischen einem System - den Terminus sehr weit verstanden -, das sich ausschließlich ethisch legitimiert - wie die Demokratie das tut - und einem solchen, das lediglich der Naturnotwendigkeit der Selbsterhaltung geschuldet ist - und nicht anders verhält es sich mit dem Wesen der Wirtschaft in letzter Konsequenz. Wenn man anfängt, diese Ebenen miteinander zu vermischen, werden Mensch und Leben zum Gegenstand von Kosten-Nutzen-Erwägungen - ... dann aber gute Nacht, Marie!
--- Ende Zitat ---
Ich bin immer wieder überrascht, was Dich so überrascht. Ein paar Zeilen weiter oben sinnierst Du noch darüber nach, dass die Demokratie keine Zukunft habe weil die Menschen zu dumm und/oder zu durchtrieben für dieses System seien. Da hast Du es doch genau: Materielle Interessen vor Ideologien - oder wie ich es oben beschrieben habe: Die Demokratisierung des Ostblocks folgte nicht dem Streben nach ideellen Werten wie "diese neue, westliche Form der Freiheit will ich auch für mich haben", sondern dem Streben nach materiellen Werten wie "diese neue, westliche Form der Fernsehgeräte will ich auch für mich haben". Mit Brecht gesagt, erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral. Die Macht der Demokratie speist sich aus ihrem Versprechen des "Wohlstands für Alle". Hält sie dieses nicht ein (z.B. in den Folgejahren der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er), dann wird sie sehr schnell von Autokratien abgelöst, die das Versprechen des Aufschwungs glaubhafter erzählen können.
Für ein System zu kämpfen, das sich *ausschließlich* ethisch legitimiert und nicht durch materielle Vorteile aufwarten kann - das ist wirklich eine ziemliche Spartenveranstaltung von einigen Freaks. Ich denke da zum Beispiel an den Franziskanerorden, die Yogischen Flieger oder die Kyniker im Griechenland der Antike.
Kenaz:
--- Zitat von: colourize am 09 April 2013, 09:19:57 ---Ich bin immer wieder überrascht, was Dich so überrascht.
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- Wie kommst Du denn darauf, dass mich das "überrascht"? Hab' ich das irgendwo behauptet? Nö. Überhaupt habe ich den Eindruck, wir reden da ein bisschen aneinander vorbei: Ich habe nirgends geäußert, dass mich die Faktizität des Primats der Ökonomie auch nur ansatzweise überrascht. Was mich allerdings in der Tat alarmiert, ist die unverfrorene Offenheit, die in dieser Hinsicht zunehmend an den Tag gelegt wird. Es gab Zeiten, da wäre alles auf den Barrikaden gestanden, wenn man demokratische Prinzipien angesichts ökonomischer Interessen oder Zwänge offen zur Disposition gestellt hätte. Dieses Blatt hat sich offenbar gewendet, wenn man mittlerweile ganz zwanglos die Vorteile - Effizienz, kurze Entscheidungswege etc. pp. - einer Quasi-Diktatur wie China gegenüber demokratischen Systemen diskutiert. Klar, diese Vorteile eignen jeder Diktatur, da macht auch Nazi-Deutschland keine Ausnahme: effektiv ging's damals zu, keine Frage. Und? Wer so argumentiert, braucht sich wirklich nicht mehr über "Nazis" aufzuregen, denn er ist auf dem allerbesten Wege, selbst einer zu werden - da kann er an noch so vielen Menschenketten teilnehmen.
RaoulDuke:
--- Zitat von: Kenaz am 09 April 2013, 09:57:11 ---Ich habe nirgends geäußert, dass mich die Faktizität des Primats der Ökonomie auch nur ansatzweise überrascht. Was mich allerdings in der Tat alarmiert, ist die unverfrorene Offenheit, die in dieser Hinsicht zunehmend an den Tag gelegt wird. Es gab Zeiten, da wäre alles auf den Barrikaden gestanden, wenn man demokratische Prinzipien angesichts ökonomischer Interessen oder Zwänge offen zur Disposition gestellt hätte.
--- Ende Zitat ---
Zwischen Ökonomie und Demokratie besteht ja gar kein Gegeneinander, sondern derzeit ist doch eher ein gleichzeitiges Versagen festzustellen, dass sich gegenseitig auch noch anheizt: Die Menschen sind unzufrieden wegen des permanenten Trommelfeuers aus Krise nach Krise und wenden sich dafür Politikern zu, die einfache Lösungen versprechen, die aber nicht nur einfach, sondern oftmals auch total schlecht sind, und heizen so eine Krise der Demokratie an, die mit ihren Fehlentscheidungen wiederum die Wirtschaftskrise anheizt.
Und NATÜRLICH besteht das Primat der Ökonomie - und das ist doch eigentlich hervorragend für Freunde der Freiheit: Wenn der Staat sich darauf beschränkt, öffentliche Güter wie innere und äußere Sicherheit bereitzustellen, Versicherungen zu organisieren und den Marktplatz am Laufen zu halten, dann hält er sich ja auch aus vielem raus: Aus der Lebensgestaltung seiner Bürger, wer mit wem eine Beziehung oder Partnerschaft eingeht, aus Musik und Literatur, aus der Religion...
Aber was passiert? Seine Repräsentanten versuchen das traditionelle Familienbild gegen alle möglichen unsinnigen Scheinbedrohungen zu verteidigen, mischen sich mit einem zwangsabgabenfinanzierten Staatsfernsehen in die Kultur ein, verbieten Kopftücher, lassen aber Kreuze in Klassenzimmern zu (und machen Inkasso für die Kirchenabgabe, die auch noch "-steuer" heisst!) und regulieren den Markt, bis sie ihn strangulieren. Und das war schon die Parteienkonstellation mit der liberalsten Ausrichtung.
Daher: Mehr Primat der Ökonomie bitte!
Vielleicht hilft gerade das ja auch gegen die Krise der Demokratie.
RaoulDuke:
[oops, Doppelposting]
Schattenwurf:
--- Zitat von: RaoulDuke am 09 April 2013, 10:25:13 ---Zwischen Ökonomie und Demokratie besteht ja gar kein Gegeneinander, ...
--- Ende Zitat ---
Oha o.O ...
wo siehst du in unserer Welt den bitte eine Ökonomie?
Ökonomie und Demokratie sind nicht nur kein Gegeneinander, sie bedingen sich sogar.
Blöd nur das wir, landauf und landab, nicht eine einzige Ökonomie auf dieser Welt haben ... ergo auch keine Demokratie haben können. ^^
Wenn wir hier weiterhin fleißig von einem Terminus in den anderen hüpfen, werden wir uns nie verstehen.
In diesem Zusammenhang sollte evtl. auch die Überschrift überdacht werden ...
Marktwirtschaft bedeutet doch das in Eigenverantwortung entschieden wird was man anbietet,
über die Nachfrage bestimmt sich dann der Preis ... ich sehe da kein Widerspruch zu einer Demokratie ...
schon alleine deswegen, weil das eine eine Wirtschaftsform das andere aber eine Gesellschaftsform ist. ^^
Wenn man aber Demokratie darüber definiert das ein Mensch eine Stimme hat ...
und jede Stimme das gleiche Gewicht/Macht ... alle Menschen sind ja an Rechten gleich ... oder?
und wenn wir weiter anerkennen das Macht gleich den materiellen Besitztümern zu setzen ist ...
dann sind wir bei Kapitalismus vs. Demokratie.
Und auf einmal wird auch Ludwigs breite Massenkaufkraft verständlich. ^^
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