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Kranke Seele, kranker Geist - psychische Störung - was ist das?
Kallisti:
Eigentlich hätte ich im Titel noch "psychiatrisch" schreiben müssen (nicht nur "psychisch"), aber das wäre zu lang geworden. ;)
Angeregt durch wieder mal eine Sendung im Deutschlandfunk, die ich heute zufällig hörte (ja, so is das oft: kommt halt einfach täglich ganz viel Interessantes im Radio :) ), möchte ich das hier jetzt also nochmal "allgemeiner" diskutieren.
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/wib/1729846/
In der Sendung ging es um Schizophrenie (haupstächlich) und darum vor allem, wie sie sich mit bildgegebenden Verfahren heute feststellen, erkennen lässt - im Unterschied zur bisherigen/früheren reinen Symptomanalyse/-deutung.
Später wurde auch Borderline Störung angesprochen, auch Zwangserkrankungen.
Interessant ist ja, dass bei Borderline es im Gegensatz zur Schizophrenie gerade keine eindeutigen Veränderungen im Gehirn gibt, die also auf "Borderline Störung" hinweisen, sie aufzeigen (könnten).
Interessant ist auch, dass bei eigentlich allen "psychischen Störungen", Psychosen die Gefühlsregulation beeinträchtigt ist - das ist allen "Störungen" offensichtlich gemein.
Interessant ist weiterhin, dass durch Neurofeedback das Stimmenhören sogar sonst/bisher therapieresistenter schizophrener Patienten sich verbessern ließ! Also ganz ohne Medikamente!
(Wobei ja nicht alle Schizophrenie-Patienten Stimmen hören.)
Interessant ist auch, dass man von der Einteilung in verschiedene Störungen immer mehr abkommt - aus Gründen ...
Und interessant ist überdies, dass nicht alle Menschen mit Psychose(phasen) darunter leiden.
Somit stellt sich mir erneut die Frage, wer eigentlich anhand/aufgrund welcher Kriterien, Grundlagen, welchen Wissens, welcher "Fakten", welcher "Studien", welcher Diagnosearten legitim festlegt, was genau wann eine seelische und/oder "geistige" "Störung" oder "Erkrankung" ist - und natürlich sind dann immer die Konsequenzen besonders spannend ... !
Wenn also das Problem der Gefühlsregulation eigentlich vor allem doch "nur" auf unterschiedliche Art selbst (von Betroffenen) angegangen, damit umgegangen wird - wie in der Sendung gesagt wird:
durch Aggression oder Zwangshandlung oder Alkohol-/Drogenmissbrauch ... ... ...
Wenn also letztlich natürlich wieder mal die Gefühle der Knackpunkt sind, dann ja - bin ich sehr gespannt, was man damit, daraus macht - in den nächsten Jahren! ?!?
Vor allem, da man ja auch weiß, dass die Übergänge (von "gesund" zu "gestört") oft fließend sind!
Deshalb meine Frage: Was ist, was meint "psychische Störung" - mal ganz "allgemein": unabhängig von den einzelnen "Krankheitsbildern"?
Woran lässt sie sich festmachen (auch wieder nur eigentlich am individuellen Leidensdruck??), wie (wodurch, womit) lässt sie sich zweifelsfrei (!) erkennen, als solche ausmachen? Wodurch gelten solche Diagnosestellungen als gesichert, als gewiss - wenn doch alles Wissen nur ein vorläufiges ist und falsifizierbar ... - was ist, wenn sich also bisheriges "Wissen"/vermeintliche Erkenntnis als falsch herausstellt (als grundlegend falsch!) - welche Folge hat das doch für alle möglichen Therapieformen, die ja auf Basis der Diagnosen (also: der bisherigen Erkenntnisse) gründen, erfolgen, damit gerechtfertigt werden? !?
Spambot:
Hatten wir das Thema nicht schon mehrmals in anderen Threads?
Ob ein psychische Störung vorliegt, wird allgemein an der Einschränkung der Funktionalität des Individuums bestimmt. Hierzu können Einschränkungen im körperlichen, psychischen und sozialen Bereich gehören. Bei den meisten psychischen Störungen merkt der/die Betroffene sehr deutlich die Einschränkungen (z.B. Angststörung mit sozialer Isolation, belastenden Gedanken und Schlafstörung) und sucht von sich aus Hilfe, weil der Leidensdruck zu groß wird. Es gibt andere Fälle, z.B. Schizophrenie, unreflektierte Substanzabhängigkeit oder einige Persönlichkeitsstörungen, bei denen der/die Betroffene die signifikanten Einschränkungen in der eigenen Funktionalität eventuell nicht wahrnehmen kann. Bei psychotischen Störungen liegt das dann logischerweise an der Psychose und in anderen Fällen an stark ausgeprägten psychischen Abwehrmechanismen (Vermeidung, Verleugnung, Minimierung, Rationalisierung etc.). Ein Mensch mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung ist beispielsweise oft so sehr darauf bedacht das Selbst vor vermeintlichen Angriffen zu schützen und sich selbst gegenüber Anderen zu erhöhen, dass die Wirkung auf das soziale Umfeld nicht mehr wahrgenommen wird. Die Folge ist dann möglicherweise ein starker Realitätsverlust und eventuell die soziale Isolation. Da Narzissten jedoch tendenziell extern attribuieren (nicht in jedem Fall), sind immer die Anderen oder die Rahmenbedingungen an den eigenen Problemen Schuld. Der Leidensdruck wird zwar gespürt, jedoch durch die Übersteigerung von Abwehrmechanismen unrealistisch zugeordnet und selbst oft nicht als psychische Störung interpretiert. Ein anderes Beispiel ist die Substanzabhängigkeit. Substanzabhängige haben oft den Glauben an die Kontrollierbarkeit des Substanzkonsums, selbst dann noch, wenn sie bereits psychische und körperliche Schäden durch den Substanzmißbrauch erlitten haben. Bei manchen stark Abhängigen wird niemals ein ausreichend starker Leidensdruck erreicht, um sich die Sucht und die Notwendigkeit fremder Hilfe eingestehen zu können, obwohl sie vielleicht bereits mit einem Bein im Grab stehen.
Psychologie/Psychiatrie ist keine exakte Wissenschaft, auch wenn die diagnostischen Kriterien aus dem DSM IV und dem ICD-10 das eventuell so erscheinen lassen. Insbesondere bei Persönlichkeitsstörungen sind die Grenzen zwischen unauffällig, kauzig und gestört fließend und sicherlich auch nicht frei von kulturellen Einflüssen. Dennoch läßt sich über den Leidensdruck und die Einschränkungen in der Funktionalität recht gut zwischen psychisch Gesunden und Menschen mit einer psychischen Störung oder Erkrankung unterscheiden. In diesem Zusammenhang kann man die diagnostischen Kriterien als einen Versuch der Zusammenfassung der Erkenntnisse aus ca. 90 Jahren Forschung zu psychischen Störungen auf der Grundlage von Symptombeschreibungen interpretieren.
Wenn du mehr über die Rolle der Emotionsregulation in bestimmten Störungen (Substanabhängigkeit, BPD, PTBS etc.) wissen willst, würde ich dir Fachliteratur empfehlen, z.B. die Standardwerke von Linehan zur BPD (DBT - Dialectical Behavior Therapy) und zum DBT-Skill Training. Emotionsregulation spielt jedoch nicht in allen Störungen eine dominante Rolle. Grundsätzlich gibt es für jede psychische Störung eigene Störungsmodelle, die dann noch an die individuelle Situation des Patienten anzupassen sind. Daher kann es gut sein, dass man beispielsweise bei Angststörungen und Depressionen eher einen Schwerpunkt auf die kognitive Ebene legt, obwohl auch hier emotionale Reaktionen eine wichtige Rolle spielen. Eine differenzierte Betrachtung der Diagnose verschiedener psychischer Störungen und der daraus resultierenden Voraussetzungen für die Therapie würde den Rahmen diese Forums deutlich sprengen. Allein die Verhaltenstherapie, welche nur eines von drei anerkannten Verfahren in Deutschland darstellt, lässt sich beispielsweise nur relativ oberflächlich in einem Standardwerk auf ca. 3000 Seiten (ohne Zusammenfassung der Manuale und Diagnose Tools) zusammenfassen.
schwarze Katze:
Nun ja, gerade bei Borderline-Störung wurden die Kriterien doch sehr erweitert - bestimmte Symptome, die vor 10 Jahren noch eine Angststörung waren sind jetzt angsthafte Level von Borderline.
Aber an Symptomen ändert sich nicht
Kallisti:
Spambot
... Danke. :)
Gut, 90 Jahre ... aber in der Zeit verändert sich ja auch viel, da blieb das "Wissen" ja nicht konstant, unverändert.
Und das meine ich eben - was früher als einfach nur "verrückt" galt (und Leute entsprechend schlecht, falsch "behandelt" wurden ...!!), nennt man heute Depression ... zum Beispiel.
Und wichtig finde ich vor allem, nach den Ursachen für all diese "Störungen" zu fragen, statt nur auf die "Funktionalität" zu sehen und den Mensch wieder "funktionstüchtig" zu machen (mittels Therapie).
Denn Ursachen finden sich sowohl im persönlichen/individuellen "Bereich" (Erziehung/Kindheit, Erlebnisse ...) wie aber auch in der Gesellschaft und Kultur.
Dass also bspw. Überforderung zu Angst"störung" führen kann, habe ich ja erst vor relativ kurzer Zeit (letztes Jahr) erfahren - wusste ich bis dahin nicht.
Und bei "Burnout" sind es ja gerade auch oft die gesellschaftlichen Strukturen, Anforderungen ..., die Menschen (auch) dazu bringen können, sich so zu verhalten, dass es "dort" endet - in der Überforderung, Erschöpfung, Depression oder auch Angst ...
So also auch bei "AD(H)S)": auch hier wird viel erst durch gesellschaftliche Umstände "forciert", provoziert, ausgelöst oder eben als inakzeptabel bewertet.
Ja sicher, immer spielen "Anlage" und "Außenfaktoren" zusammen. Aber wenn man schon an der "Anlage" (noch) nicht viel drehen kann (oder will - also: "genetischer Umbau" ... ;) ), dann doch vielleicht wenigstens und immerhin an den Außenfaktoren!?
Wenn eine Gesellschaft aufgrund ihrer "Beschaffenheit" offenbar immer mehr (?!) "Krankheit(en)" gebiert, mit sich bringt, verursacht, begünstigt - warum dann nicht an diesem Knopf drehen?
Das fängt halt meiner Ansicht nach z.B. auch schon bei der jeweiligen individuellen Kindererziehung/-behandlung/-umgang an - das ist nun mal eine wichtige und sensible Zeit und aus diesem Grunde is das ja auch so mein "Spezialacker" ... ;) Da sähe ich gerne einiges "verändert": zugunsten der "gesunden" Entwicklung von Kindern. ...
Aber eben auch sonstige Arbeits- und Lebensbedingungen. Es ist doch Fakt einfach, dass zahlreiche psychische Erkrankungen mit eben diesen Lebensumständen vermehrt einhergehen (siehe auch Suizidraten in einigen Ländern ...).
Ich finde es eben falsch, dann wieder also nur Symptome zu "behandeln": also einzelne Menschen wieder einigermaßen und vor allem: "funktionsfähig" (!) zu machen, statt an den Ursachen etwas zu verändern - breit, langfristig, dauerhaft. Sozusagen Prävention statt Therapie.
Denn das Versagen wird so ja immer dem Individuum letztlich angelastet - es ist "seine" Störung/Krankheit, die er selbst zu verantworten hat, die er selbst mitverursacht oder provoziert hat ... Also muss auch nur er selbst sich darum (eigenverantwortlich) kümmern. Egal, wie widrig die Umstände sind - und wenn er in solche schon hineingeboren wurde, ist es halt auch sein Pech und es hängt ab von einzig seinen "Fähigkeiten" (genau: Disziplin, Selbstverantwortung, "Willensstärke"lol ...), ob er ein "Versager" bleibt oder "sich hochkämpft" ... - ob er es schaffen will oder nicht ...
Das ist doch unbestreitbar die gängige vorherrschende Sichtweise! Nicht?
Ich sehe es immer noch so, dass die wenigsten Menschen (psychisch/geistig) "krank" oder "gestört" geboren werden (von Anlagen also absehend, die es auch gibt, ja, die sich aber also oft erst "später" im Leben zeigen: im Zusammen"spiel" mit der "Umwelt", also: BELASTENDEN Außenfaktoren, die so belastend unter Umständen eben nicht sein müssten, wie ich meine, wenn man da was änderte) - sondern diese "Störungen" werden im Verlauf eines Lebens "erworben" - aufgrund ja also von: "Umständen" ... !
Und da sich Gesellschaften verändern - wie auch Erkenntnisse ... - finde ich es immer sehr heikel, wenn etwas als psychsiche und oder "geistige" "Störung" oder "Krankheit" definiert, festgelegt wird, das es unter anderen Umständen/Außenbedingungen/Sichtweisen gar nicht wäre. Was ich also sagte: Entscheidend sind doch diese "Außenfaktoren", auf die das betroffene Individuum wenig bis gar keinen Einfluss nehmen kann (oft). Das spiegelt sich wider in deinen Sätzen:
--- Zitat ---Psychologie/Psychiatrie ist keine exakte Wissenschaft, auch wenn die diagnostischen Kriterien aus dem DSM IV und dem ICD-10 das eventuell so erscheinen lassen. Insbesondere bei Persönlichkeitsstörungen sind die Grenzen zwischen unauffällig, kauzig und gestört fließend und sicherlich auch nicht frei von kulturellen Einflüssen.
--- Ende Zitat ---
Spambot
Und wie ich an anderer Stelle bereits sagte (ADHS-/Ritalin-thread): Der Leidensdruck entsteht doch deutlich durch wiederum die Umwelt - durch also das "Abweichen von der Norm" und das demonstrativ vorgehaltene eigene "Nicht-Funktionieren" - durch also Bewertungen, Verurteilungen von anderen, von also: außen.
Somit ist es wieder abhängig davon, was eine Gesellschaft akzeptiert, toleriert ... und was - aus welchen Gründen! - nicht: das prägt dann den jeweiligen Leidensdruck der "Gestörten".
Natürlich stellen sie selbst (unter Umständen) fest, dass sie also "anders" sind (diverse Dinge nicht oder nicht mehr so gut "können" ... ... ...), aber das doch nur, weil ihnen vermittelt wird, dass ihr abweichendes Verhalten als Problem, als unerwünscht, als behandlungsbedürftig betrachtet wird.
Sicher hört es mit der Toleranz da auf, wo andere durch solch "abweichendes" Verhalten geschädigt werden oder stark negativ beeinträchtigt - aber das ist nicht immer wirklich der Fall - oder? Oder anders gefragt: Schädigt "unerwünschtes" Verhalten, das auf Charakterlosigkeit beruht (!) andere Menschen nicht oft weit mehr, stärker und weitreichender als "unerwünschtes Verhalten" aufgrund sogenannter "psychischer Störung"?
schwarze Katze:
Nun denke ich, dass viele Störungen auch früher gab, man hat sie nur nicht behandelt.
z. B. ein Mädchen, die an selektiven Mutismus leidet, wurde früher nicht als behandlungsbedüftig sondern als "blöde" angesehen, und so schnell wie es noch geht, von der Schule genommen (taugt ja nicht, ist pure Geldverschwendung).
Sie landete dann als Halb-analphabetin auf irgendwelchen Bauernhof als Magd oder als Hilfsarbeiterin auf einer den unzähligen Fischfabriken und vegetierte schweigend vor sich hin. Sie soll auch arbeiten und nicht reden.
Auch wurde die PTSB früher nicht bekannt, obwohl ich vermute, dass es damals schon aufgrund von Kriegen und körperlichen Züchtigungen in die Familien viel mehr traumatisierte Menschen gab als jetzt.
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